• Wut

    Samstags arbeitet beim Bäcker eine Frau, die hat eine Wut. Welcher Art die Wut ist lässt sich schwer bestimmen, denn die Frau verbirgt sie hinter einem ausdruckslosen Gesicht. Ihr Gesicht ist derart ausdruckslos, dass es schon wieder ausdrucksstark ist. Es ist eine offensive Ausdruckslosigkeit, vielleicht auch eine defensive, man müsste mehr wissen, um zu verstehen. Das Gesicht der Frau ist eine verschlossene Tür, der Schlüssel zwei mal rumgedreht, außerdem Riegel und Kette. Aber es liegt eine Warnung in den Augen, da ist ein Schild  …

  • Alaatin und die Straße

    Mitten in Beyoğlu, einem Stadtbezirk von Istanbul, da, wo die Viertel Cihangir und Tophane ineinander übergehen, liegt eine schmale Straße, die seltsam vergessen wirkt. Ich gehe oft durch diese Straße, wenn ich in Istanbul bin; Elif lebt hier mit ihrer Familie, ich beobachte die kleinen Veränderungen und fürchte die Großen. Alaatin kraxelt plötzlich die kleine Böschung am Straßenrand herab und steht unvermittelt neben mir. Ich grüße, und er grüßt zurück. Weil ich etwas verwundert bin, wo er da her geklettert kommt gucke ich mich neugierig  …

  • In den Straßen am Goldenen Horn

    Ich habe eine Verabredung zum bloggen mit Simone von Mein weisser Elefant. Jede von uns schreibt über einen langen gemeinsamen Stadtspaziergang neulich in Istanbul. Die Idee kam irgendwie herangeflogen, auch inspiriert durch die Blogverabredungen von Novemberregen und Frau Fragmente. …

  • Abendlicht am Bosporus

    In Istanbul sind die Tage kürzer als in Deutschland, es wird früher Abend, die Dunkelheit senkt sich schneller herab. Die Schatten werden früher lang, das Licht wird früher golden und dann geht alles ganz flott und zack, ist es dunkel. Immer wieder bin ich verblüfft darüber, wie früh und wie rasch der Tag zu Ende geht. Ich mag diesen schnellen Wechsel, ich mag die Lichter des Abends und der anbrechenden Nacht und diese gleichzeitig unerschütterlich fortgesetzte Betriebsamkeit, die in Istanbul an vielen Orten erstaunlich wenig städtisch wirkt. …

  • 80 Prozent gutes Deutsch

    Ich habe einen Termin irgendwo in der Stadt, wo ich sonst nur selten bin. Es sind noch ein paar Minuten Zeit, die Sonne scheint, da ist ein Bäcker mit drei Außentischen, der mittlere ist frei. Ach komm, denke ich, einfach mal was ungewöhnliches tun. Also hole ich mir drinnen an der Theke einen Kaffee und setze mich damit draußen an den Tisch. Links am Tisch sitzt ein Mann, der Zeitung liest, rechts von mir sitzen zwei ältere Frauen, schätzungsweise beide Mitte siebzig. Sie unterhalten sich über irgendwas, es gelingt mir, nicht zuzuhören. …

  • Einatmen, Ausatmen, Atempause

    Elf Katzen hatte Josefs Mutter: „Züffchen, Lottchen, Gräuchen, Pummelchen, Stinkerdoris“, rattert er die Namen runter und bricht dann ab, „alle habe ich sie nicht mehr im Kopf.“ Geliebt habe seine Mutter die Katzen; mehr als ihre Kinder. „Sie wollte eigentlich gar keine Kinder, sie wollte lieber nur die Katzen.“ …

  • Mann mit Tretroller

    Vor mir auf dem Radweg fährt ein alter Mann mit einem Roller. Es ist ein kleines Gefährt, kein batteriebetriebener E-Scooter und auch kein moderner Kickscooter, es ist ein Tretroller mit kleinen Rädern, ohne Schnickschnack und englische Begriffe. Der Mann fährt langsam und bedächtig, mit einem Fuß tritt er sich vom Boden ab um Schwung zu holen, dann setzt er ihn zurück auf den Roller und gleitet leicht wackelnd voran. …

  • Herbstbeginn im Dachgarten

    Die Gräser blühen in diesem Jahr besonders schön. Viel zu selten schenke ich den Gräsern Zeit. Nein, viel zu selten schenke ich mir Zeit bei den Gräsern. Dabei blühen sie in diesem Jahr so ganz besonders schön. …

  • Projektionen

    An der Bushaltestelle steht eine Frau und guckt auf ihre Armbanduhr. 
Sie ist gerade dort angekommen, heran geeilt, bloß den Bus nicht verpassen und nun ist sie seltsam ausgebremst, der ganze Schwung vom beeilen schwappt noch heran, während der Körper schon steht. Nur die Füße treten als Echo noch auf der Stelle, ihre Bewegung läuft aus wie eine Welle am Ufer. Die Frau schiebt den Ärmel ihrer Regenjacke hoch und guckt auf die Uhr. Zunächst in Unruhe, sie könne trotz Hetzerei den Bus doch verpasst haben. Dann verändert sich der Blick.  …

  • Schwimm schön

    Vom schönsten Meeresschwimmbecken, an dem ich einmal war, habe ich leider kein Foto. Ich erinnere mich, dass ich damals sehr bedauert habe, keine Kamera dabei zu haben und wie ich mühsam versucht habe, mir diesen Umstand schön zu reden. 
Das Meeresschwimmbecken, von dem die Rede ist, liegt im Norden von La Palma; Piscina La Fajana. Vor ein paar Jahren war ich dort, an einem grauen Tag, es war windig und kühl.  …

  • Beim Tierarzt

    Beim Tierarzt am Empfang sitzt eine Frau direkt neben der Eingangstür und wartet. Zu ihren Füßen hockt ein Hund, der ist mittelgroß und grau. Ich kenne mich mit Hunden nicht aus; dieser hier ist einer ohne Fell. Also Fell im Sinne von Haaren. Vermutlich heißt auch bei einem haarlosen Hund das Fell Fell, ich weiß es nicht. Man sagt ja auch Kuhfell, und eine Kuh hat ja auch nur kurze Haare, die platt anliegen. Ich weiß nichts über Hunde, alles, was man an ihnen lesen könnte, entgeht mir oder ich kann es nicht einordnen. …

  • Nebenjob

    Der Kuli ist alle, zack, wie das immer plötzlich geht denke ich, eben schreibt er noch normal und dann, unvermittelt, kommt nur noch Ungefähres in blassblau. Man hat die Hoffnung dass es noch für dieses eine Wort reicht oder auch noch für das nächste oder wenigstens das Datum, ich bin ja gerade noch beim Datum, ich hab ja nicht mal wirklich angefangen mit dem Schreiben, da soll ich schon verstummen. Ich überlege einfach weiter zu machen, den Text ins Papier zu kratzen, das wird man ja wohl später auch irgendwie entziffern können, notfalls  …

  • Den Fokus korrigieren

    Neulich habe ich Fotos an einer Bühne gemacht. Auf der Bühne die Band, vor der Bühne das Publikum, dazwischen ich mit meinen Kameras im sogenannten Graben. Gerade wird die Zugabe gespielt. Nach einem tobenden Konzert mit Konfetti und Lichtspektakel sitzt der Sänger nun auf einer Kiste und singt ein ruhiges Lied, das ans Herz geht. …

  • Am Sekretär meiner Mutter

    Wie ich so draußen auf der Holzbank sitze fällt mir plötzlich eine Erinnerung vor die Füße. Unvermittelt, zack, ist sie da, keine Ahnung aus welcher Richtung sie sich herangepirscht hat – es wird schon irgendetwas gewesen sein, ein unbeaufsichtigter Gedanke, ein Bild, ein Geräusch, irgendetwas, jedenfalls fällt mir plötzlich dieses ein: Als ich noch klein war, so im mittleren Grundschulalter, habe ich mitbekommen, dass Geld bei uns zuhause ein Thema war. Oder genauer gesagt war ‘Kein Geld‘ das Thema. Vielleicht auch wenig Geld oder  …

  • Nur eins

    Früher einmal war ich Kostümbildnerin beim Film. Viele Jahre meines Lebens habe ich mit dieser Arbeit verbracht und noch immer räume ich die Überbleibsel davon auf. Neulich ist mir dabei eine Tasche in die Finger gefallen: aus Plastik, mit aufgedruckten Rosen. Zwei Stück hatte ich davon, vielleicht waren es auch drei, ich kann mich nicht erinnern. Damals hatte ich ungeheuer viele Taschen in allen möglichen Farben, Formen und Größen. In meinem Leben als Filmschaffende hatte ich reichlich Dinge zu verstauen und zu transportieren. Beim  …

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