Beim Tierarzt

Beim Tierarzt am Empfang sitzt eine Frau direkt neben der Eingangstür und wartet. Zu ihren Füßen hockt ein Hund, der ist mittelgroß und grau. Ich kenne mich mit Hunden nicht aus; dieser hier ist einer ohne Fell. Also Fell im Sinne von Haaren. Vermutlich heißt auch bei einem haarlosen Hund das Fell Fell, ich weiß es nicht. Man sagt ja auch Kuhfell, und eine Kuh hat nur ganz kurze Haare, die platt anliegen. Ich weiß nichts über Hunde, alles, was man an ihnen lesen könnte, entgeht mir oder ich kann es nicht einordnen.

Die Frau trägt eine grüne Jeans mit Schlag, ein T-Shirt und darüber einen kurzen, vielfarbigen Pullunder, der bis zum hohen Bund der Hose reicht. Der Pullunder sieht aus wie das Brustteil einer Ritter-Rüstung; er besteht aus dicken Garnen, die zu einem stabilen Gewirk verknüpft, verschlungen oder verwoben sind. Ihre Haare hat die Frau zusammengebunden, der kurz geschnittene Pony erzählt lässig von Frisur. Die Frau ist so besonders und so unprätentiös zugleich, dass ich sie dauernd angucken möchte.

Es ist früh, der Tierarzt hat eben erst geöffnet. Am Empfangstresen gibt eine Frau ihre Katze ab, die offenbar operiert werden soll. Die Frau sitzt gebeugt auf ihrem Rollator, seltsam alterslos mit raspelkurzen Haaren und in bescheidener Verfassung. Wenn neben ihr ein Rollständer mit Infusionsbeutel stünde, man würde sich keine Sekunde wundern. Eigentlich wundert man sich, dass dort kein solcher Rollständer steht. Gerade wird die Abholzeit der Katze verhandelt. 16:00 Uhr sagt die Frau hinterm Tresen zur Frau ohne Infusionsständer. Das sei zu spät, erwidert diese, da liege sie ja schon im Bett. 15:30 ist das nächste Angebot und vermutlich macht diese halbe Stunde für die Frau überhaupt keinen Unterschied. Aber so ist es nun … die Narkose … früher geht es eben nicht.
15:30 also, sie stimmt zu, was soll sie auch machen.

Die Frau dreht sich mit ihrem Rollator Richtung Ausgang, wo die bunte Frau aufspringt, um ihr die Tür aufzuhalten. Der Hund steht auch auf und läuft an kurzer Leine hin und her, was die Leinenlänge eben hergibt. Dabei umwickelt er die grünen Hosenbeine der Frau, ein kurioses Hundeleinen-Ballett, bei dem sich die bunte Frau mit lang gestrecktem Arm über die Frau und ihren Rollator beugen muss, um die Tür aufhalten zu können. Die Rollator-Frau schiebt sich unter dem Arm hindurch wie beim Hochzeits-Spalier – nur ohne Musik – und erreicht die Straße.

Nun wird die bunte Frau mit Hund, die inzwischen beide wieder sitzen, nach ihrem Namen gefragt. Sie nennt ihn. Es ist ein ganz normaler Name, aber ich weiß doch sofort, dass ich dieser Frau auf Instagram folge.
Ich habe einen kranken Kater, der hockt kleinlaut in einer Kiste auf meinen Knien, und vielleicht überlebt er seine Krankheit nicht. Mir ist nicht unbedingt nach Reden zumute, aber ich spreche die Frau dennoch an. Ich frage: „Darf ich etwas sagen?“ und weil sie nickt, sage ich, dass ich ihr auf Insta folge. Das mache ich häufiger so, wenn mir Menschen aus dem Internet im Alltag begegnen. Ich entscheide nach Gefühl, natürlich möchte ich niemanden belästigen.  Im Nachhinein bin ich mir nicht sicher, ob das hier nicht doch geschehen ist, ich weiß es nicht.

Die Antwort der bunten Frau ist freundlich, aber kurz. Sie fragt wer ich bin, und ich erwähne noch, dass wir eine gemeinsame Bekannte haben, über die ich auf sie aufmerksam geworden bin.

Die Frau hinterm Tresen schreibt und räumt und ist überhaupt sehr geschäftig. Dann springt sie auf und fragt mich, wie es dem Kater geht. „Nicht gut“, antworte ich, „er frisst ja nicht.“ Sie nimmt die Kiste mit dem Kater, der auch operiert werden soll und nennt mir die Abholzeit: 16:00 … die Narkose …

Mit leeren Händen und schwerem Herzen gehe ich zum Ausgang, denn ich bin in Sorge um meinen abgemagerten Kater und kann doch nichts tun, außer eben immer das Nächste. Zum Beispiel einen Schritt gehen und dann noch einen.
An der Tür bleibe ich stehen und sage: „Alles Gute für den Hund“, zu der bunten Frau. Sie guckt mich an, aber sie sagt nichts. Ihr ganzer Körper ringt leise und kaum sichtbar um Fassung, das bemerke ich erst jetzt. Sie hat Tränen in den Augen, die rollen nicht heraus, die bleiben drin und setzen alles unter Wasser. Die Tränen bleiben bei der Frau und auch die Worte, sie bilden eine kleine intime Gemeinschaft, die im Leid zusammenhält. Die Frau hält den Hund an der Leine und dann macht sie mit einer Hand eine Bewegung, eine Geste.

Die Welt bleibt kurz stehen, so kurz, dass es gar nicht weiter auffällt, man kann es nicht messen und nicht beweisen, aber die Welt bleibt kurz stehen. Ich sehe den Hund an, der für mich genauso alterslos ist wie die Frau mit dem Rollator. Der Hund sitzt da und lebt, scheinbar alles ganz normal, und ich versuche zu begreifen, dass dieses Leben gerade endet. Dass es vielleicht keine Stunde mehr dauert. „Das tut mir so leid“, sage ich, und denke, wie banal das doch klingt.
Was soll man sagen, wie soll man ein Gefühl aus tausend Metern Tiefe in fünf Worten unterbringen.

Als ich nachmittags ein paar Minuten zu früh die Straße entlang gehe, um meinen Kater beim Tierarzt abzuholen, steht vor der Praxis ein Taxi, in das gerade die Frau mit dem Rollator und ihrem Katzenkorb einsteigt.
Ich denke an die bunte Frau und ihren Hund.

18.09.2022

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