Ich habe einen Termin irgendwo in der Stadt, ich bin zu früh, es ist noch Zeit. Die Sonne scheint, da ist ein Bäcker mit drei Außentischen, der mittlere ist frei. „Ach komm“, denke ich, „einfach mal was ungewöhnliches tun.“ Also hole ich mir drinnen an der Theke einen Kaffee und setze mich damit draußen an den Tisch.
Links am Tisch sitzt ein Mann der Zeitung liest, rechts von mir sitzen zwei ältere Frauen, schätzungsweise beide Mitte siebzig. Sie unterhalten sich über irgendetwas, es gelingt mir, nicht zuzuhören.
Dann plötzlich ruft die eine Frau: „Hallo!“, und noch einmal „Hallo!“, dieses zweite Hallo ist ungeduldiger als das erste, es schwingt sogar schon ein bisschen Empörung mit. Es folgt ein drittes „Hallo!“, sehr energisch; das kann man nicht nicht hören. Also gucke ich, was da los ist, und ein junger Mann, der schon vorübergegangen war, guckt auch, und er begreift: diese Rufe gelten ihm.
Er dreht sich um, kommt ein paar Schritte heran und grüßt die Frau freundlich: „Ach, Hallo, guten Tag.“
„Das ist der Mann aus dem Laden“, erklärt die Frau ihrer Sitznachbarin, „was ich dir erzählt hab.“
Ahja … ja … soso … Guten Tag …, in dieser Art geht es weiter und der junge Mann sagt: „Ich habe heute Morgen frei, ich will nur schnell etwas einkaufen.“
„Aber hören Sie mal“, sagt die erste Frau zu ihm, “ich war ja so wütend neulich, so wütend, das geht nicht! Wieso können die denn alle kein Deutsch da bei Ihnen? Ich wollte neulich eine Suppe essen mit meinem Besuch, und das Mädchen hat uns gar nicht verstanden, das geht nicht!“
„Oh, sie spricht schon ein bisschen Deutsch“, sagt der junge Mann, „aber nicht sehr gut, das stimmt.“ Er ist ausnehmend höflich und geduldig, er steht da am Tisch und diese Frau ist offenbar eine regelmäßige Kundin, da kann er jetzt nicht einfach weitergehen.
„Das gibts doch nicht“, geht es am Nebentisch weiter, „die müssen doch Deutsch können, Sie sprechen doch auch Deutsch.“
Das stimmt, der Mann spricht Deutsch, und zwar tipptopp, astrein, fehlerfrei; er spricht ein so deutsch klingendes Deutsch, dass ich mich wundere, dass es überhaupt erwähnt wird.
„Also für mich sprechen Sie, sagen wir mal, 80 Prozent gutes Deutsch, aber die sprechen ja gar kein Deutsch, das gibts doch nicht. Das geht doch nicht, da müssen Sie doch was machen!“, sagt die Frau mit einer Beharrlichkeit, die zunehmend schrill wird.
„Ja, die meisten kommen auch aus Vietnam, wie ich“, sagt der junge Mann. „Manche sind erst seit einem Jahr in Deutschland. Die haben nicht alle vorher einen Deutschkurs gemacht“, versucht er zu erklären.
Er steht da, macht ein freundliches Gesicht, bleibt geduldig, will vermitteln. Er ist vielleicht Mitte oder Ende zwanzig, die Sonne scheint, er hat frei, und er will eigentlich nur kurz was einkaufen gehen. Tapfer führt er nun dieses plötzliche Gespräch am Straßenrand. „An den Herrentisch befohlen“, denke ich, denn mir bereitet die Situation allmählich Unbehagen.
„Sie wissen doch, ich hab immer Sonderwünsche, und man muss doch reden können, ich will doch auch reden“, sagt die Frau aufgebracht und zieht das Wort reden mit drei e in die Länge. Reeeden will sie; es schwingt beinahe Verzweiflung mit.
„Ja, ich weiß“, sagt der Mann, „ein bisschen Deutsch sprechen sie ja. Auf jeden Fall verstehen sie aber sehr viel.“ Er sagt das anerkennend, es ist keine Rechtfertigung. Er lenkt das Augenmerk auf das, was da ist, nicht auf das, was fehlt.
„Das geht doch nicht“, sagt die Frau zum wiederholten Mal. Die Forderung wird immer vehementer, als könne der junge Mann nur kraft seiner Gedanken direkt an Ort und Stelle alle seine Mitarbeiter befähigen, ab sofort deutsch sprechen zu können, mindestens 80 Prozent, damit die Frau nur ja Ansprache hat beim nächsten Besuch.
„Ich verstehe Sie“, sagt er mit leichtfüßigem Gleichmut, und es klingt obendrein auch noch ehrlich. „Ich gehe mal weiter“, verabschiedet er sich freundlich, „ich muss kurz was einkaufen, bis zum nächsten Mal, einen schönen Tag noch.“
„Ach“, ruft die Frau dem Mann hinterher, „wir waren neulich bei dem anderen Vietnamesen, da hinten die Straße hoch. Also, kein Vergleich! Kein Vergleich.“ Das soll offenbar ein Kompliment sein, aber es kommt mit lahmem Bein daher. Etwas im Ton rührt Gift in den Satz, ein Hauch von Provokation weht durch die Luft.
Der junge Mann nickt und lächelt. Mit einem Winken dreht er sich um und geht davon.
Ich staune ihm beeindruckt noch einen Moment nach. Unerwartete Lektion in Weitherzigkeit am Wegesrand. Dann muss auch ich weiter.
Ich bin ebenfalls beeindruckt und mir sehr sicher, dass ich nicht so geduldig und weitherzig gewesen wäre.
Ja, bemerkenswert, auch und vor allem die Leichtigkeit!
Ob ich umgekehrt nach einem Jahr in Vietnam zu 80 Prozent gutes Vietnamesisch könnte? Ich vermute: nein.
Möge der junge Mann alles bekommen haben, was er einkaufen wollte, und dann noch einen schönen freien Morgen oder ganzen Tag verlebt haben.
Möge Dir, Smilla, Dein Kaffee dennoch geschmeckt haben.
Möge die Frau sich der ihr zuteil gewordenen Weitherzigkeit rückblickend doch noch bewusst werden (man lernt ja bis zum letzten Atemzug, sagt man) und sich etwas davon abschauen.
Danke fürs Teilen!
Das hast du schön geschrieben, gerade auch den dritten Teil. Wirklich wahr, danke dafür.
Danke für den Text.
Beobachtung, als sei ich dabei gewesen.
Ich fühle jedes scheidende Wort.
Liebe Grüße Suse
Danke dir. Scheidendes Wort, die Formulierung hab ich noch nie gehört, aber ich weiß was du meinst. Frag mich gerade ob das ein regionaler Sprachunterschied ist? Oder einfach deine Art es auszudrücken?