Am Sekretär meiner Mutter

Wie ich so draußen auf der Holzbank sitze fällt mir plötzlich eine Erinnerung vor die Füße. Unvermittelt, zack, ist sie da, keine Ahnung aus welcher Richtung sie sich herangepirscht hat – es wird schon irgendetwas gewesen sein, ein unbeaufsichtigter Gedanke, ein Bild, ein Geräusch, irgendetwas, jedenfalls fällt mir plötzlich dieses ein:

Als ich noch klein war, so im mittleren Grundschulalter, habe ich mitbekommen, dass Geld bei uns zuhause ein Thema war.
Oder genauer gesagt war ‘Kein Geld‘ das Thema. Vielleicht auch wenig Geld oder nicht genug Geld. Geld war jedenfalls ein Problem, und zwar eines, dass offenbar häufig genug besprochen, angedeutet oder hingezischelt wurde, um mich verstehen oder annehmen zu lassen, dass es ernst ist.
Hinzischeln ist, wenn Eltern etwas besprechen, was die Kinder eher nicht mitbekommen sollen, man aber nicht nicht über das Thema sprechen kann, obwohl die Kinder gerade anwesend sind. Dann wird gezischelt, mal mehr, mal weniger kodiert, damit es nicht verstanden werden kann.
Inhaltlich hat das sicher funktioniert. Natürlich habe ich trotzdem die Stimmung erfasst, die dramatisch und sorgenvoll war, zumindest in meiner kindlichen Wahrnehmung.

Nicht verstehen worum es geht, aber zuverlässig spüren, dass es brennt; das wirft Fragen auf in so einem Kinderkopf. Vermutlich war ich mit diesen Fragen alleine. Alleine mit etwas zu sein war mir deutlich vertraut. Vielleicht aber habe ich sogar Fragen gestellt.
Ich erinnere mich nicht.
Woran ich mich erinnere: Kein Geld hat mir Angst gemacht, und deswegen wollte ich es wissen.

Im Zimmer meiner Mutter stand ein alter Sekretär. Ich wusste, dass sich in einer der Schubladen eine Geldkassette befand. Die war aus Metall, mit Griff und Deckel zum aufklappen. Darin habe ich eine Antwort vermutet. Klarheit.
Irgendwann, ich meine es war nachts, bin ich also heimlich an den Sekretär meiner Mutter gegangen. Ich habe die Schublade herausgezogen und die Geldkassette geöffnet.
Darin lagen 50 Mark. Ein Schein. Das wars. Mit Schrecken saß ich da, die aufgeklappte Kassette vor mir in der Schublade.

Ein Schein. Ein einzelner, einziger Schein, ganz alleine da in der Kassette. In meiner Erinnerung war die Welt plötzlich so klein wie diese Kassette vor der ich saß, und gleichzeitig schien mir die Welt unermesslich und bedrohlich groß, so groß jedenfalls, dass man mit nur diesem einen Schein verloren war.
War das wirklich alles, was wir noch hatten? Würde Geld nachkommen? Was, wenn man mit diesem Schein etwas bezahlen müsste? Dann wäre die Kassette leer, das Geld alle. Es war fürchterlich.

Die Erinnerung an diese Geschichte kam überraschend, aber nicht zum ersten Mal. Ich denke manchmal daran. Nun habe ich sie aufgeschrieben. Es ist keine schöne Geschichte. Ich finde sie sogar so schrecklich, dass ich überlege diesen Text gar nicht zu veröffentlichen. Aber das hieße auch, das kleine Mädchen von damals wieder alleine da sitzen zu lassen.
Schwierig.

Wissen wollen was ist, das begleitet mich durchs Leben. Verdrücktes kann ich nicht gut aushalten. Schwieriges schon. Auch ambivalentes, unfertiges und ungewisses. Vieles eigentlich, solange es nur auf den Tisch kommt.

18.04.2021

16 Comments

  • Anna Mantei sagt:

    Wie gut, dass Du das kleine Mädchen von damals nicht wieder alleine da hast sitzen lassen, sondern die Geschichte mit uns geteilt hast! Danke fürs Lesen-dürfen!

  • Hauptschulblues sagt:

    Geld war im Hause von H.s Kindheit auch immer ein Thema. Letzten Ende musste das Häuschen verkauft werden.
    Heute ist es wunderbar,dass es da ist und viele Menschen damit unterstützen zu können.

  • Volker Krause sagt:

    Was für eine anrührende Geschichte! Es zeigt sich wieder einmal Schreiben befreit! Dazu dieses passende ausdrucksstarke Foto. Ich bin gespannt auf das, was Du noch aufschreiben und zeigen kannst!

  • kaltmamsell sagt:

    Puh. Dank im Namen des kleinen Mädchens, dass du aus dem Erinnerungsbild und dem Gefühl dazu eine Geschichte gemacht hast. Ich glaube, damit kann man sich ermächtigen, indem man einer diffusen Bedrohung eine Kontur gibt – manche können das vielleicht mit einem Gemälde / einer Skulptur, du mit Wörtern.

    • Smilla sagt:

      danke… und da kommt bei dem Begriff Kontur direkt eine andere Erinnerung hoch, vielleicht schreibe ich die auch mal auf, ich glaube schon.

  • Rosi sagt:

    oh ja..
    oft war das was die Eltern verheimlichen wollten
    gar nicht mal so schlimm wie das Verheimlichen selber
    kein Geld..
    nun ja .. das war so alltäglich dass ich mir keine Gedanken darum gemacht habe
    es war aber auch kein Thema
    und wenn ich etwas haben wollte und es hieß.. dafür ist kein Geld da
    habe ich es akzeptiert

    schön dass du die Geschichte aufgeschrieben hast

    liebe Grüße
    Rosi

  • Christine Nätscher sagt:

    Kein Geld, ich glaube das ist doch ein /kein Thema in allen Generationen. Auch meine Kinder und ich selbst mussten das immer wieder hören. Manchmal bis jetzt noch. Aber wir schaffen es doch!
    Schön geschrieben von dir.
    LG
    Christine

  • Werner sagt:

    Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will (Cees Noteboom).

    Dieser wunderschöne Satz fällt mir dazu ein. Mich begleitet er schon lange. Auch in meinen Fotos.
    Manche Erinnerungen gehören auf ein „Blatt Papier“, damit sie einen Ort haben.

    Danke für diesen Beitrag

  • Hans-Georg sagt:

    Ich denke, es ist besser, den Kindern die Probleme zu erklären als sie zu verheimlichen. Als mein Sohn damals fragte, er war vielleicht 5 oder 6, ob wir im nächsten Jahr wieder nach Mallorca fliegen, habe ich ihm gesagt, dass wir im nächsten Jahr dafür kein Geld hätten. Ich war zu Tränen gerührt als er dann vorschlug, er könne ja was von seinem Ersparten dazugeben.

    • Smilla sagt:

      Ja, das ist wirklich ergreifend, dass er das vorgeschlagen hat. Und es zeigt auch sehr anschaulich wie Kinder naturgemäß eben bestimmte Situationen nicht einordnen können. Wie hat er es denn aufgefasst, dass das ein toller Vorschlag ist, aber dass es trotzdem nicht gehen wird?
      Und Offenheit, ja, mit dem Schrecken alleine sein; da ist der Phantasie keine Grenze gesetzt.

      • Hans-Georg sagt:

        Ich habe ihm gesagt, dass ich das ganz toll von ihm finde und ganz lieb, aber das sein Geld dafür nicht ausreicht. Mein Sohn hat das dann auch so akzeptiert.

  • Carsten sagt:

    „Unbeaufsichtigter Gedanke“ – diese Formulierung allein war es wert! Schön geschrieben. Und irgendwie erinnert der Text wohl viele hier an die Dämonen unserer Kindheit. Mich auch. Andere haben es schon gesagt, ich habe es gelernt: Die Dämonen verschwinden nur, wenn man sie anspricht.

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