Projektionen

An der Bushaltestelle steht eine Frau und guckt auf ihre Armbanduhr. Sie ist gerade dort angekommen, heran geeilt, bloß den Bus nicht verpassen und nun ist sie seltsam ausgebremst, der ganze Schwung vom beeilen schwappt noch heran, während der Körper schon steht. Nur die Füße treten als Echo noch auf der Stelle, ihre Bewegung läuft aus wie eine Welle am Ufer.

Die Frau schiebt den Ärmel ihrer Regenjacke hoch und guckt auf die Uhr. Zunächst in Unruhe, sie könne trotz Hetzerei den Bus doch verpasst haben. Dann verändert sich der Blick. Sie guckt nun mit einer Fokussiertheit aufs Zifferblatt, als könne sie da noch ganz andere Werte und Faktoren ablesen, und als erfasse sie diese Option gerade zum ersten Mal.

Sie ist so vertieft, es geht nicht mehr um Minuten oder die Stunde. Da geht es um das ganze Leben, es ist ein Blick wie eine Bilanz. Ein ernster, ein wesentlicher Moment.
Sie macht dabei ein Gesicht, das man nur macht, wenn man sich komplett unbeobachtet fühlt, wenn man ganz und gar alles um sich vergessen hat.

Lohnt sich das alles, will ich das so, wie bin ich hier nur hingeraten, so ungefähr mögen ihre Gedanken sein. Ein plötzliches Gewahr werden scheint zu passieren. Innere Mäntelchen der Verhüllung fallen, Klarheit setzt ein, jedoch verheddert im Schleppnetz von Resignation. Sie steht gebeugt, der Körper verharrt ohne Atem. Aber da ist auch eine leise Spannung, da ist etwas in ihr bereit zum Sprung. Die Augen sind ins Nichts gerichtet, der Kopf ist Richtung Boden geneigt. Im Kopf herrscht Hochbetrieb: da geht es um Möglichkeiten, Auswege, neue Wege und die Ermittlung von Schäden bei sofortigem Umbruch. Kosten, Nutzen, Risiko. Solche Überlegungen, so groß, so wichtig, so plötzlich.

 

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Auf der Terrasse eines Lokals stehen ein paar Männer und Frauen in kleinen Grüppchen zwischen Stehtischen herum. Es sind mehr Männer als Frauen, der Grund für die Zusammenkunft hat mit Arbeit und Beruf zu tun, das kann man an den Namensschildern erkennen, die viele noch tragen. Einigen kann man es auch an der Kleidung ablesen. Jetzt aber ist der Tag vorbei, Ausklang. Es wird Wein ausgeschenkt.

Ein Mann im Anzug schiebt sich zwischen den Grüppchenklumpen hindurch, findet schließlich seinen Platz. Dieser Platz ist scheinbar irgendwo; noch drin im Pulk, zugleich am Rand, ohne erkennbare Bezugsgruppe, aber auch nicht verloren allein. Endlich mal ungestört einfach nur so da stehen.

Der Mann trinkt einen Schluck Wein aus seinem Glas, offenbar den ersten, und dann atmet er aus. Er atmet sehr gründlich von ganz unten aus, es fällt reichlich Spannung ab, ein seichter Sprung ins Schwerelose. Sein Ausatmen wird durch einen Ton flankiert; ein tiefer Seufzer, der passiert einfach so, vielleicht sogar unbewusst, jedenfalls aber sehr privat inmitten der Menge. Es ist kein Seufzer als Gesprächseröffnung, er ist an niemanden gerichtet.
Nur der Mann und sein Weinglas, gut versteckt im Gewühl, endlich Ruhe. Feierabend.

 

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Im Park spazieren zwei Frauen nebeneinander her, sie sind im Gespräch. Es ist ein ungleiches Paar: Eine der Frauen führt einen Hund mit sich. Sie trägt stabile Schuhe, Jeans, eine Regenjacke, eine Hundeleine. Ihr Blick ist ernst, der Gang dynamisch, ganz routinierte Hunderundenläuferin. Die andere Frau hat lange schwarze Haare, die sorgfältig geföhnt sind. Sie trägt einen langen schwarzen Mantel aus Lederimitat. Darunter enge schwarze Kleidung zu hohen Schuhen. Sie ist, das kann ich beim näherkommen erkennen, entschieden geschminkt und sie hat imposant aufgespritzte Lippen.
Als ich an den beiden vorbeigehe, guckt die Hundebesitzerin der schwarzhaarigen Frau gerade prüfend ins Gesicht, und ich höre sie sagen: „Nein, also wenn ich es nicht wüsste, hätte ich es nicht gedacht. Es sieht sehr natürlich aus!“

25.09.2022

3 Comments

  • waldwanderer sagt:

    Grins 😉
    Projektionen sind was Feines!
    Positiv erlebt werden es, so wie bei dir hier, bewusstes Geschichten erfinden und feine Wörter, Bilder und Sprachgespinste dafür zu Papier bringen.
    Dankeschön dafür!

    „Innere Mäntelchen der Verhüllung fallen, Klarheit setzt ein, jedoch verheddert im Schleppnetz von Resignation.“
    Sehr poetisch! Made my day!

    Dem Kater geht’s besser?!!
    .

    • Smilla sagt:

      Danke dir!
      Projektionen, ein großes Thema. Da fällt mir auf die Schnelle nix kluges zu ein.

      Der Zustand vom Kater ist gerade relativ stabil, die nächste nahe Zeit wird es zeigen….

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