Handwerkerseele geht wählen

 

In Brügge habe ich diese Frau fotografiert, weil ich es ‚irgendwie lustig‘ fand, dass sie ein Kleid in den Farben der Deutschlandfahne trägt. Erst Tage später haben sich mir beim wiederholten Sichten meiner Belgienfotos die Worte schwarz-rot-gold ins Hirn ge­schlichen, und langsam habe ich begriffen, dass die Farben zwar stimmen, die Reihen­folge allerdings nicht.
Ich fürchte, meine politische Bildung ist insgesamt ähnlich ungenau angelegt. Ich hab von vielem schon mal gehört, aber Durchblick sieht doch anders aus.

Am Sonntag ist Wahl und hie und da lese ich Prognosen zur zu erwartenden Wahl­beteiligung, bzw. wie viele Menschen vermutlich nicht wählen werden. Ich finde, dass das ein interessantes Thema ist: Teilnahme – zum Beispiel am Staat. Oder um es vielleicht etwas niedriger aufzuhängen, an der Gesellschaft.
Es erfüllt mich auch stets mit Erstaunen, wenn im Parlament, in der EU, in der UNO, wo auch immer, Politiker, die ein Mandat vom Wähler bekommen haben, sich der Stimme ‚enthalten‘.
In meinem stammtischpolitisch geprägten Herzen, dessen Argumente sich überwiegend aus persönlichem Gerechtigkeitsempfinden, höchst subjektivem, sogenannten Menschen­verstand und ein paar aufgeschnappten Fakten bilden, kommt dies einer Arbeits­verweigerung gleich.

Ich wäre gerne wahnsinnig gebildet; auch auf politischer Ebene. Tatsache ist, dass ich das nicht bin und dass allein der Aufwand, den ich betreiben müsste, um mir auch nur ein halbwegs differenziertes politisches Verständnis anzueignen, in keinem Verhältnis steht zu dem, was ich ich diesbezüglich zu leisten imstande bin.
Denn wenn ich eines gelernt habe in der Schule, dann dies: das Lernen mit dem Kopf gehört nicht zu meinen Stärken. Ich muss Dinge tun, erfahren, erleben, dann kann ich sie mir auch merken. Eine Handwerkerseele, das bin ich. (Ich möchte betonen, dass dies eine ganz subjektive Definition ist.)
Und was ich im Anschluss an deprimierende Jahre des sich ‚mit-anderen-vergleichens‘ in der Schule ganz dringend habe lernen müssen, ist folgendes: Ich bin nicht dumm, ich weiß nur nicht so viel.

Aber auch ich bin Bürgerin in diesem Lande und am Sonntag gehe ich wählen. Tröstlich erscheint mir, dass ich keineswegs die einzige bin, deren gekritzelte Kreuze keinem politischen Kreuzverhör standhalten könnten.

Zurück zur Wahlbeteiligung: die einen schreiben, Nichtwähler verspielen die Demokratie. Die anderen schreiben, Nichtwählen ist ein Grundrecht in einer Demokratie. Aha. Ich verstehe natürlich wieder mal beides. Es müsse eine Wahlpflicht her, lese ich und denke ‚interessante Idee‘. Sowas gibts natürlich woanders schon, erfahre ich wenige Klicks später, zum Beispiel in Belgien. Kritisch wird berichtet, das Land werde dennoch nicht besser regiert, sondern lediglich verwaltet. Mh, denke ich, nun müsste ich doch langsam eine Meinung haben.

Um es kurz zu machen: je mehr ich, in diesem Fall über #wählen gehen lese, desto ungeordneter sind meine Gedanken. So kenn‘ ich mich. In den letzten Tagen habe ich, passend dazu, wiederholt Herrn Reich Ranitzkis übliche Schlußworte beim literarischen Quartett als Zitat gefunden:  „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Ohne eine Antwort darauf, ob ich für oder gegen eine Wahlpflicht wäre und mit reichlich weiteren offenen Fragen – zum Beispiel für welche verschachtelten Zusammenhänge mir gänzlich das Problembewußtsein fehlt –  begebe ich mich also am Sonntag zur Wahlurne, und tue dort so, als hätte ich eine Antwort.  Auf die Frage, wer meiner Meinung nach doch bitte in Zukunft regieren möchte.
Das ist eigentlich lächerlich.
Trotzdem halte ich es für wichtig. Besser, als nicht wählen gehen.

 

 

Wenn man nicht wählt, wählt man das, was die anderen wählen. #wahlarena
— ellebil (@ellebil) September 11, 2013

 

20.09.2013

14 Comments

  • Anna sagt:

    Ich hab – sozusagen – heute schon gewählt. Meine Gedanken dazu waren und sind den Deinen sehr ähnlich…

    Schön beschrieben, die Fahnenverwechslung; war für mich beim Lesen irgendwie witzig, da mir das "Schwarz-Rot-Gold" schon im Kopf herumschwirrte…

    Nun bin ich gespannt auf Sonntagabend; auch oder gerade weil natürlich auch ich nicht so genau weiß, ob meine beiden Kreuze eine gute Antwort darstellen…

  • Schnitzel sagt:

    Wählen geht nur, wenn man die Wahl hat. Wenn also die Alternativen 50 zu 50 stehen, dann hat man die Wahl. Alles andere ist keine Wahl, weil die Konsequenz eigentlich eine – wenn auch minimale – klare Entscheidung ist.

    Nicht Wählen geht nur, solange es keine – vermeintlich – bösartigen Möglichkeiten gibt, die bei einer politischen Wahl so etwas wie Extremismus ermöglichen. Einfaches Beispiel:

    Es gibt drei Wähler. Man kann wählen zwischen Todesstrafe ja oder nein. Zwei Wähler entscheiden sich, nicht zu wählen. Der eine, der übrig bleibt, entscheidet: Todesstrafe: ja.

    Klaro?
    GEHT WÄHLEN.

  • Liisa sagt:

    Ach liebe Smilla! Manche Handwerkerseele hat mehr Verstand und Wissen als die sog. Intellektuellen, die sich so im Glanze ihrer Intelligenz und ihres angeblichen Wissens sonnen. Beispiele für Letztere konnte man gerade erst dieser Tage tönen hören und was da abgesondert wurde, war gerade nicht von Verstand und Wissen gekennzeichnet. Da ist mir jede Handwerkerseele mit vielleicht weniger aber solidem (Lebens)Wissen und dem Herz am rechten Fleck zig mal lieber (auch als Wähler).
    Wählen heisst, nach bestem Wissen und Gewissen mit seiner Stimme für das einstehen, was man in diesem Augenblick oder in dieser Situation für das Bestmögliche hält. Irrtum ist da durchaus auch möglich, befähigt einen aber dann, bei der nächsten Wahl eine bessere Entscheidung zu treffen, weil man etwas dazu gelernt hat. Ja, Deine, meine, unsere Stimmen sind wichtig in der Demokratie aber das darf nicht dazu führen, dass wir aus lauter Sorge "falsch" zu wählen gar nicht wählen. Viel größere Geister und Köpfe als wir haben bei ihren Wahlen schon geirrt (und manchmal auch die bitteren Konsequenzen tragen müssen). So ist das immer im Leben. Es gibt Entscheidungen, bei denen es ein klares richtig und falsch gibt (und da herrscht dann im Prinzip auch Konsens darüber, was richtig und was falsch ist) und es gibt ebenso viele Entscheidungen, wo es nicht wirklich ein richtig oder falsch gibt und wo einzig unsere individuellen Werte und unser Gewissen den Ausschlag geben. Wohin uns eine Wahl (egal ob nun politisch oder andere Bereiche des Lebens) führt, das wissen wir meistens nicht, das erweist nur die Zeit. In diesem Sinne entspanntes Wählen am Sonntag!

  • Stefanie sagt:

    Solange Du keinen Würfel in der Wahlkabine dabei hast, wirst Du Dir Deine Kreutzchen schon irgendwie überlegt haben. Und der gesunde Menschenverstand, eine Portion Intuition und guten Willens sind dabei sicher nicht die schlechtesten Ratgeber!

    Gutes Kretzeln, liebe Grüße,
    Stefanie

  • Anja sagt:

    Du sprichst mir aus der Seele. Ich habe auch NULL Ahnung von Politik. Egal wie sehr ich mich bemühe meine politische Bildung auszubauen, mein Hirn scheint politische Themen als "unwichtig und nicht erinnerungswürdig" abzulegen. Trotzdem gehe ich wählen.

    LG Anja

  • Anita sagt:

    Zu dem Thema fällt mir nur eines ein. Wer glaubt, das tatsächlich Parteien und Politker unser Schicksal bestimmen, der möge wählen gehen. Der Rest kann sich anschauen, wer die Lobbyisten im Lande sind und was diese vorhaben.

  • christine sagt:

    Ja, auch ich bin eine Handwerkerseele. Ich gehe schon immer zur Wahl , habe aber auch schon immer das Gefühl zu wenig zu wissen und mein Kreuz evtl. falsch zu setzen. Trotzdem ist es für mich Ehrensache 🙂
    ein schönes Wochenende wünscht
    Christine

  • ZeitenSprung sagt:

    "Ich bin nicht dumm, ich weiß nur nicht so viel"
    Das Gefühl kenne ich gut, und stehe dazu.
    Aber geht das nicht allen Menschen so ? Wenn sie ganz ehrlich sind ? Wer kann schon immer, zu allem, genug wissen ?

    Danke für diesen mutigen Satz.

  • Ein 1A-Plädoyer, wie ich finde – mit einem herrlichen "Aufhängerfoto". Diese "vondeutschenFarbenabweichendeZusammenstellung" wurde mir auch erst wieder deutlich als ich die Diskussion über die Kanzlerinnenkette am Duellabend las … Gottseidank gibt es heutzutage dieses "kluge Google", das mmich bei Bedarf an al das erinnert, was ich mal wusste, aber wieder vergessen habe, weil ich auch solch eine "Handwerkerseele" bin. Eine wunderbare Beschreibung!

    Im Grunde meines Herzens wäre ich eine Nichtwählerin angesichts dessen, was uns als sicher gebrochen werdende Versprechen und offensichtliche Lügen von den ZurWahlstehenden präsentiert wird. Und doch habe ich mich (wieder) entschieden, wählen zu gehen. Und zwar aus dem Grund, den Schnitzel nennt und du mit dem zitierten Tweet verdeutlichst.
    Ich sage auch: Wählen gehen ist wichtig.

    lieben Gruß
    Brigitta

  • Du sprichst mir aus der Seele – auch wenn ich eher ein Kopfmensch bin.

    Wir sollten froh sein, dass wir wählen können (auch wenn die Alternativen nicht wirklich prickelnd sind) und das auch nutzen. Es gibt viele, die haben gar keine Wahl.

    Liebe Grüße
    Astrid

  • Anonym sagt:

    Den Satz "Ich bin nicht dumm, ich weiß nur nicht so viel" – der gefällt mir, und passt auch zu mir. Ich geh wählen, weil ich finde, das ist meine Pflicht als Bürgerin. Aber Ahnung, äh, habe ich auch nur mehr als rudimentär. Poltik ist sehr komplex, und es überfordert mich oft. Aber ich finde es ein Privileg, wählen zu dürfen. Freunde, die einen ausländischen Pass haben, obwohl sie in Deutschland leben, dürfen nicht wählen. Von daher, morgen an die Wahlurne!

    Und die Belgienflagge, ach, überhaupt Flaggen… mehr sag ich nicht… müßte ich Telefonjoker bei Flaggen sein…. ach herje, ich würde mich nicht gerade mit Ruhm bekleckern.

    Gruß aus dem Veedel
    N.

  • Wählen gehen. ganz klar. und selbst wenn der verdammte zettel ungültig gemacht wird, so zählt die stimme an sich bei der wahlbeteiligung. und nur so kann gewährleistet werden, das gewisse parteien nicht die 5% hürde schaffen. nichtwählen gehen und dann meckern über die politik geht garnicht. liebe grüsse.

  • Luc Philippe sagt:

    Wieder ein guter Artikel, der seinen Anlass allerdings in einer Verwechslung findet. Die Frau auf dem Foto trägt nicht die deutschen, sondern die belgischen Nationalfarben (und zwar in der richtigen Reihenfolge: schwarz, gelb, rot), und noch dazu eine orange Handtasche. Wir haben es mit einer bekennenden Royalistin zu tun, einem Fan des belgischen und des holländischen Königshauses. Belgien hat Wahlpflicht, der König wird aber nicht gewählt.

  • meersuppe sagt:

    Was anonym zart andeutet: Wenn man es belgisch sieht, passt die Flagge, denn dann ist sie schwarzgelbrot. Das in Brügge zu tragen – wo!

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