… und dann auch noch schnücksch?

Vom Mitspielen dürfen

Eines möchte ich diesem Text voranstellen: unendlich viele Menschen in diesem Land widmen sich aufopferungsvoll, unentgeltlich, unentwegt und zumeist unerwähnt der Hilfe und Unterstützung von Flüchtenden. Sie verwenden ihre Kraft und Zeit um zu helfen. Ich kann mich nicht dazuzählen, denn ich tue quasi nichts. Allerhöchstens ein leises ‚quasi‘ darf ich mir gönnen, oder ein hoffnungsvolles ’noch nichts‘.
Ich lese, ja. Vor allem Herrn Buddenbohm gilt an dieser Stelle mein Dank, der sich regelmäßig die Mühe macht profunde Linksammlungen zum Thema zusammenzustellen, die er nach wie vor bescheiden Sonderausgabe nennt.
Ich lese also, ich mache mir Gedanken, nehme innerlich Teil. Aber weder stehe ich in einer Suppenküche, noch in einer Kleider-Sortierkammer, noch bin ich sonstwie irgendwie tätig.
Meine kleinen Aktionen sind situative Einzelhilfen im Promillebereich, von denen ich nur hoffen kann, dass sie tatsächlich hilfreich sind. Meine vielen Gedanken beschäftigen mich persönlich, haben aber keine Wirkung, keinen Nutzen im Außen.

Oft versuche ich mich hineinzuversetzen: in Menschen, die auf der Flucht sind, die ihr Leben verloren haben, die aber noch am Leben sind. „Losmarschiert als Preussen und als Gesindel angekommen“ schreibt Dörte Hansen in ihrem Roman „Altes Land“ über flüchtende Menschen aus Ostpreussen. Ich übertrage das im Geiste auf Menschen aus Syrien, Afghanistan, Afrika, woher auch immer eben die Menschen stammen, die ihr Leben auf der Flucht riskiert haben.

Es gibt unendlich viele Momente, in denen ich Bezüge herstelle, indem ich Situationen und Reaktionen vergleiche. Seit einer sehr, sehr großen Weile bin ich dankbar über das zufällig per Geburt erhaltene Privileg, fließend warmes Wasser zu haben, eine Krankenversicherung, mehr als genug zu Essen. Dass ich mein Leben bis heute in einem demokratischen Rechtsstaat verbringen durfte. Dass es eine Selbstverständlichkeit für mich ist, mich zu keiner Zeit ernsthaft dafür rechtfertigen zu müssen, niemals einer Religion angehört zu haben. Dass ich unversehrt bin. Mit diesen Gedanken bin ich nicht allein, sie sind auch nicht neu. Ich wollte es bloß mal gesagt haben.

Gestern war ich in meinem Viertel im Kaufland – das ist ein monströser Supermarkt unter einem Dach mit ein wenig drumherum garniertem Einzelhandel. Dort bin ich so gut wie nie. Deswegen habe ich auch den Eingang nicht gefunden. Mein Weg hat mich direkt zu den Kassen geführt, die mit einem komplizierten Gitter-Abtrennsystem den Zugang unmöglich gemacht haben. Um hineinzugelangen hätte ich kurz vorm Blumenladen links gehen müssen, was mir – bis jetzt – nicht ganz eingängig ist. Also habe ich die Verkäuferin an der Kasse gefragt: „Wo geht’s denn hier rein?“ Eine maximal banale Situation. Trotzdem: ich stelle mir vor, wie es einem Menschen gehen mag, der, sofern er überhaupt Geld hat, in diesen Megasupermarkt hinein möchte. Seit Wochen, Tagen, Stunden erlebt er sich in einer Welt, die ihm nicht vertraut ist. Er spricht die Sprache nicht, kann vielleicht nicht mal die Zeichen lesen. Er bekommt an jeder Ecke zu spüren: Du bist anders. Du bist Nichts.
Dieses Gefühl dürfte für ihn so neu sein, wie das Land in dem er sich nun befindet. Aufgebrochen als Syrer, angekommen als Asylant.
Nicht den Eingang zum Supermarkt zu finden, kann – so stelle ich es mir vor – eine der zahllosen Alltagsdemütigungen sein, denen sich Flüchtende ausgesetzt sehen.

Im Buch „Selim oder die Gabe der Rede“ wird beschrieben, wie ein frisch eingereister ‚Gastarbeiter‘ zum Bahnhof möchte, um dort Rolltreppe fahren zu üben. Rolltreppen gab es nicht in seinem Heimatort. Also lernt er zunächst das Wort Hauptbahnhof, denn dort gibt es diese Rolltreppen, das weiß er. Bei ihm klingt es wie Hoppannoff. Wen er auch nach dem Weg fragt, niemand versteht ihn. Ich weiß eigentlich nichts mehr aus dem Buch, außer dieser Szene (von der ich hoffe, sie einigermaßen richtig wiedergegeben zu haben). Mich hat die Vorstellung berührt, dass sich da einer mit Eifer auf den Weg macht, um im neuen Land mit den neuen Herausforderungen zurecht zu kommen, und dessen erste gewaltige Hürde die Aussprache ist.

Ich erinnere mich an meine Versuche, mich im Ausland zurecht zu finden. Vor allem an Orten, die nicht auf Touristen ausgerichtet sind; in Istanbul Pfeffer auf dem Gewürzbasar zu kaufen ist einfach. Auf einem touristenfreien Markt in weniger zentral gelegenen Stadtteilen sieht die Sache schon etwas anders aus. Und auch das ist eine banale Situation: ich bin reich genug, um ohne Not einfach mal nach Istanbul zu fahren. Ich habe entschieden, wo ich dort komfortabel unterkommen möchte, mir gehts prima. Aber ich bin ein höflicher Mensch, ich fühle mich unsicher, weil ich kein türkisch kann und überhaupt, was redet der Mann so schnell, warum guckt er mir nicht in die Augen, warum lacht jetzt sein Kollege und soviel Pfeffer wollte ich doch gar nicht? Ein kleiner innerer Aufruhr, ganz ohne echte Not.

In persönlicher Not habe ich mich eher in meiner elternlosen Jugend befunden, in der es mich zeitweilig nach Amerika verschlagen hat. Ein Land in das ich nicht wollte, verschickt von einer Mutter, die mich schon lange nicht mehr wollte.
Gerade in dieser Zeit, in diesen Monaten in Amerika, in denen nichts nach dem ohnehin schlechten Plan verlief, war ich angewiesen auf die Hilfe und die Unterstützung anderer Menschen. Ich war angewiesen darauf, dass sich jemand verantwortlich fühlt mich bei sich aufzunehmen, oder einen anderen Menschen zu finden, der bereit wäre, es zu tun. Ich war angewiesen darauf, dass dieser Jemand mir zu Essen gibt. Letztlich war ich sogar angewiesen darauf, dass jemand mir nach acht langen Monaten ein Ticket zurück nach Deutschland kauft. Und ich hatte Glück, dass da immer ein Jemand war.
Meinen 14. Geburtstag habe ich in Amerika verbracht. Es war keine leichte Zeit. Einmal hat eine deutsche Frau mich in eine Shopping-mall mitgenommen, um mir dort etwas zum anziehen zu kaufen. Ich war sehr groß, ich war sehr dünn, die amerikanische Kleidung war mir fremd. Das Unterfangen war zäh, die deutsche Frau schließlich genervt: „Jetzt auch noch schnücksch, oder was?“ hat sie irgendwann gesagt. Sie hat formuliert was ich schon lange empfunden habe. Als Ausgehaltene, als Geduldete hat man keine Wünsche zu haben. Man hat zu nehmen was es gibt.
Als stabiler, erwachsener Mensch kann ich diese Einstellung heute sogar als pragmatische Idee nachvollziehen. Damals, als Jugendliche in Not, konnte ich es nicht. Ich habe zunehmend versucht mich unsichtbar zu machen und mich in mich zurückgezogen.

Vor kurzem hat eine Frau, der ich mich sehr verbunden fühle, einen 18jährigen jungen Mann aus dem Libanon bei sich aufgenommen. Das beeindruckt mich sehr. Er hatte nichts, außer die Kleidung, die er am Leibe trug und blau gefrorene Lippen. Ich habe gefragt, ob ich Kleidung schicken kann und begonnen ein Paket für ihn zusammenzustellen. Nun muss man wissen, dass es jahrelang mein Beruf war, Kleidung für Menschen zusammenzustellen. Immerzu habe ich das mit großer Sorgfalt getan. Bloß war es immer für Schauspieler bzw. ihre Rollen in Filmen.
Für diesen jungen Mann Kleidung zu suchen – der nicht in Köln, sondern 400 km entfernt ist – den ich nicht persönlich kenne und einschätzen kann, das war schon schwierig. Kleidung finden für einen innerlich versehrten Menschen, den seine ungewisse Situation mehr als verletzlich macht. Natürlich habe ich Unterwäsche, Socken, T-shirts neu gekauft. Aber welche Sorten Unterhosen tragen Männer aus dem Libanon eigentlich? Ein Freund mit ähnlichen Maßen hat wirklich tolle Kleidung von sich aussortiert und bei mir für ihn abgegeben. Aber wird es ihm gefallen? Bei jedem Teil habe ich mich gefragt, ob er sich damit auch wohl fühlen wird, ob diese Kleidung ihm eine sichere Hülle bieten wird. Ich frage mich, wie er sich fühlen wird: ein Paket zu bekommen, und da sind dann vielleicht lauter falsche Sachen drin. Hoffnung gefolgt von Enttäuschung. Womöglich begleitet vom Gefühl, nichts wollen zu dürfen. Sich ab nun zufrieden geben zu müssen. Nicht schnücksch sein zu dürfen.

Ich habe alle Quittungen mitgeschickt, zur Not kann er also wenigstens das Gekaufte umtauschen gegen Sachen, die ihm entsprechen oder gefallen. Mit denen er sich gut ausgestattet fühlt in seiner neuen Umgebung, von der unklar ist, ob sie seine neue Heimat werden kann – ob er hier mitspielen darf.

31.12.2015

7 Comments

  • Anonym sagt:

    Nach meinem Schulabschluss begann ich vor vielen Jahren die Ausbildung bei der Stadtverwaltung und mein erster "Schreibtisch" stand beim Sozialamt – ich erinnere sehr gut, wie erschreckt ich war, als damals die Sozialhilfe zum Teil in Kleidergutscheinen für ein bestimmtes Kaufhaus und nur einen bestimmten Artikel ausgestellt wurde. Wie beschämend empfand ich es, wenn die Menschen mit einem, für mich so empfundenen, stigmatisierenden Gutschein einkaufen sollten.
    Natürlich wurden mir Gründe genannt …. natürlich hatte man Erfahrungen gesammelt – aber dieses Gefühl bei mir blieb und später bei meiner charitativen Gemeindearbeit habe ich mich immer dafür eingesetzt, keine Gutscheine zu verteilen sondern den Menschen Geld auszuzahlen und ihnen die freie Entscheidung zu überlassen.

    Viele der Betreuten hatten kein Problem mit ihrem Gutschein – doch bei einigen sah ich die Scham in den Augen – sie verzichteten dann lieber auf diesen Gutschein und gingen mit einem zaghaften Kopfschütteln.

    An genau diese Situationen habe ich mich gerade beim Lesen deines Artikels erinnert, dieses Empfinden von damals ist mich gerade buchstäblich 'angesprungen' und auch an die Einstellung vieler Kollegen erinnere ich deutlich, wenn sie mein Entsetzen sahen, meine Einwände hörten, meine Empfindungen nicht nachfühlen konnten: 'was? auch noch Ansprüche haben? Die sollen sich freuen, dass ……'

    Wie gut, dass es Menschen mit diesem Gespür im Herzen gibt, wie du es hast.
    Danke für diesen Bericht.

    Ein gutes 2016 wünsche ich dir

    Clara

  • Ähnliche Gedanken wie Clara hatte ich, als ich in der Zeitung las, das die Tafeln Weihnachtspakete sammelt. Es dürfen nur haltbare Dinge hinein, die man braucht um ein Weihnchtsessen zu kochen. Ob man nicht lieber Geld spendet, damit die Familien sich ihr Essen frisch aussuchen und kaufen können, habe ich überlegt. Wie muss man sich fühlen, wenn man an einem Fest ander Leuts Dosen auf macht ?

    Danke Smilla, für diesen Post, Deine Worte und die Bilder, die diesmal im meinem Kopf enstanden sind. Ich glaube auch nicht, das diese Mensch leichtfertig all diese Hürden auf sich nehmen, und gegen Ihr "Zuhause" tauschen. Auch wenn ihr Zuhause nur noch die gewohnte Luft, Landschaft und das Klima ist.

  • Manuela sagt:

    Mit Gänsehautgefühl habe ich diesen wundervollen Text gelesen – Danke dafür. So viele Gedanken, gefühlte Erinnerungen kamen hoch. Nur wenn man das mitgemacht hat, weiß man, wie verwirrend und demütigend es manchmal ist, sich in einem fremden Land zurecht- und wohl zu finden.Zum ersten mal Hände waschen auf einer deutschen Autobahntoilette wenn man keinen Hebel sieht und fremde Blicke dich argwöhnisch beobachten, die Toilettenspülung bedienen …. das ist eine echte Herausforderung, das sage ich euch. So oft fühlt man sich ein Nichts und ja, eine Tarnkappe die einen unsichtbar macht zur Hand zu haben, das hätte ich mir oft gewünscht. Ein frohes und gesundes neues Jahr für uns alle, ich lese gerne deine Gedanken hier ☺. Manuela (geb. in Rumänien ☺)

  • Anonym sagt:

    ..Dein Beitrag, liebe Smilla, hat mich wieder einmal ganz tief bewegt…..Als vor vielen Jahren Klaus (WG mit Freunden) und Ralph (Studium in Hannover)ausgezogen waren, hatten wir im Steuerbüro eine Studentin aus Simbabwe, die sich mit Putzen ihr Studium (Visuelle Kommunikation) verdienen wollte. Als sie feststellte, dass das nicht klappte, wollte sie zurück nach Harare. Ich habe ihr eine Bleibe und eine Wohngemeinschaft angeboten und sie blieb während der Kasseler Zeit bei mir; bekam noch einen Zauberjungen und hat ihr Studium zum Abschluss gebracht. Ihre Studienfreunde aus Hamburg, Berlin etc. kamen gleich mit Isomatte zum Übernachten zu mir. Es wurde gelacht, gekocht, gespielt und war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Sie haben mich ungemein bereichert!!
    Meine Shuvai konnte die ersten Jahre wieder zu Hause in Harare ihren Beruf ausüben – bis die Politik alles veränderte….
    Ich nehme Dich im Geiste ganz lieb in meine Arme und schicke Dir viele gute Gedanken und Wünsche….
    Liebe Grüße Christel

  • Anonym sagt:

    Ich teile soooo viele der Gedanken.
    Ich lebe als Deutsche in Österreich. Verstehe/spreche die Sprache und falle rein äußerlich erst mal nicht auf. Und trotzdem spüre ich jeden Tag: ich bin nicht willkommen als Deutsche. Ich lebe in einem Ort in dem gerade ein nationalistischer Bürgermeister mit 55% der Stimmen gewählt wurde. Es ist als nicht nur "mein Gefühl", dass ich hier nicht willkommen bin. ABER ich bin nicht in Not, nicht geflohen, kann wieder in meine Heimat zurück, was ich auch tun werde, etc.
    Wie muss es sich anfühlen, wenn man die Sprache nicht spricht, wenn man nichts hat, alles verloren hat, vom Krieg traumatisiert, Familie vielleicht ermordet wurde oder vermisst wird und auf Hilfe angewiesen ist…. Ich kann mir das nicht vorstellen, außer dass es 100000 mal schlimmer sein muss als mein kleines Unwohlsein.
    …..

  • Anna sagt:

    Einfach danke! Irgendwie will ich mehr dazu schreiben, aber offenbar lässt mein Schnupfenkopf nicht genügend Konzentration zu, mein Fühlen in verstehbare Worte zu kleiden…

    Ein frohes, gesundes, gutes 2016 Dir, liebe Smilla!

  • Rumpelkammer sagt:

    ich sitze hier mit Tränen in den Augen..
    es kommt auch bei mir ganz viel hoch..
    ich war ein "Flüchtlingskind" ein Kartoffelkäfer..
    die ersten 6 Jahre in einem Zimmer einer fremden Wohnung aufgewachsen..
    unerwünscht.. dann in eine neue Umgebung verpflanzt..natürlich war es dort schöner ..komfotabler..
    aber zarte Wurzeln die sich gebildet hatten wurden zerrissen..
    und wieder fremd.. unerwünscht.. Kartoffelkäfer eben..

    liebe Grüße
    Rosi

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