Nachmittags sitzen drei türkische Frauen dicht aneinander gerückt auf der Bank neben dem Sessel.
Noch etwas später sehe ich einen Mann an der Haltestelle. Er sitzt im Sessel. Aber nicht irgendwie; er hat richtig Platz genommen. Mit genau der entspannten, zurückgelehnten Haltung, zu der der Sessel – ganz perfekter Gastgeber – unaufdringlich einlädt.
Er sei der erste, den ich im Sessel sitzen sehe, sage ich zu dem Mann und frage ihn, wie es wohl kommen mag, dass das neue Möbel nicht genutzt wird. Jaques überlegt einen Moment und ruckelt sich neu zurecht im Sessel: „Ja, also ich will den Bus ja gar nicht nehmen, da hatte ich das Gefühl, ich hab auch keine Berechtigung an der Haltestelle zu sitzen.“ Die Antwort verblüfft mich. Ich sehe Jaques an, ich sehe seinen Rücksack, die eingerollte Jacke – wie fragt man einen Menschen, ob er auf der Strasse lebt? Gar nicht, erst Mal. Ich kann nicht sicher sein, dass ich ihm mit der Frage kein schlechtes Gefühl verursache. Aber Jaques erzählt es selbst, noch immer der Frage nachgehend, warum der Sessel nicht genutzt wird. Mit einem schnellen Blick zur Seite, zu mir, sagt er: „Ich tippel so rum, ich leb auf der Strasse.“ Und dann: „Die Stadt, das sind die anderen. Ich erlebe die Stadt aus einer isolierten Position. Der Sessel gehört ja hier nicht hin, der ist ja eigentlich Sperrmüll.“
Mit 17 hat Jaques sich von der Schule abgemeldet, wie er es nennt. Er hat es dort nicht ausgehalten. Von seiner Familie hat er sich zurückgezogen.
Irgendwie lebt er seitdem auf der Strasse. Mit 22 ist er nach Amsterdam gefahren: „Fünf Jahre war ich dann dort. Dabei wollte ich nur ein Wochenende bleiben.“
Ich erlebe Jaques als scheu und wach und nachdenklich. Er lässt sich Zeit beim sprechen, er wählt die Worte wohl, mit dem Blick scheint er Worte und Gedanken in der Luft zu suchen, er nimmt sie genau, er wägt sie ab, er betont alles sehr bewusst, seine Finger und Hände helfen beim Sprechen. Fast ein bisschen lyrisch ist das alles, nur ohne Verse. Jaques hat viel Zeit und er beobachtet genau; er selbst wird meist übersehen. „Einer wie ich spielt in dieser Gesellschaft keine Rolle“, das sagt er und es klingt nicht bitter. Jaques fühlt sich außerstande ein normales Leben zu führen, arbeiten zu gehen, all das. Als roboterhaft empfindet er die meisten Menschen. „Ich führe das Leben eines Philosophen“, sagt Jaques und dass er ‚mehr so ein Bursche‘ sei. Ich frage, was er mit Bursche meint: „So einer … mit einerseits Pelz … und süßen Seiten.“ Ich verstehe nicht genau was er damit meint, aber ich verstehe immer so vieles nicht, und nehme es dennoch in mich auf. Vielleicht verstehe ich es ja irgendwann.
„Ich bin schon traurig“, sagt Jaques, „Ich meine, es ist ja einiges schief gelaufen in meinem Leben.“ Dennoch lebt er gerne auf der Strasse, so ausserhalb von allem. Freunde hat er keine, aber es gibt etwas, das ihm vertraut ist – vielleicht die Gegend in der er sich meist aufhält. „Ich fühle mich wie in einem Netz; also kein Spinnennetz, das wäre ja Angst. Es ist ein gutes Netz.“ Jaques liest viel, er interessiert sich für Gandhi, Philosophie und die Wahrheit, seine eigene Wahrheit in seinem eigenen Tempo. Diese Auseinandersetzung mit sich, mit den Gedanken anderer, das gibt ihm Halt.
Danke Smilla, tolle Begegnung, sehr schöne Geschichte!
Was für eine wunderbare Geschichte! Und welch ein Jammer, dass die Busgesellschaft (oder die Stadt?) dieses Potential eines Sessels nicht erkennt. Man soll sich eben nicht wohlfühlen! Schade.
Aber wie gut, dass du im rechten Moment dort warst.
Schöne Ostertage!
Eine tolle Begegnung! Danke fürs Teilen!
Was für eine tolle Geschichte.
Und was für tolle Menschen es gibt – in wunderbaren Situationen.
Hast du echt toll geschrieben.
Ich hatte beim Lesen das Gefühl, ich sitze dabei.
…von ein guten Kumpel…. ! ich mochte den Sessel sehr. Der hätte gern noch eine Woche da stehen bleiben können.
Wunderbar. Danke fürs Erzählen und Teilen!
Danke, dass Du siehst und zuhörst.
Zuhal
aaawwwww!
Smilla, Jaque, Sessel …
ihr seid wunderbar!
ich bin sehr berührt
und sehr dankbar
nicht nur von der/für die geschichte:
die begegnung, die du so achtsam und respektvoll geteilt hast, klingt lange nach
. da waren zwei menschen sehr präsent.
Da geht mir das Herz auf! Danke. Für das Teilen dieser besonderen Begegnung zweier besonderer Menschen.
Schön.
Wie alle anderen bin auch ich berührt – vom Sessel, von Jaques, von der Art, wie Du, Smilla, ihn an- und mit ihm weitersprichst und dies dann später schreibend wiedergibst, von Jaques Geschichte, von dem, was er über "diese Gesellschaft" denkt und sagt, und – von den roten Füßen des Sessels! Ja, das ist jetzt kitschig, egal: Sie stehen für mich für die Herzenswärme, in der Jaques und Du, Smilla, ganz offenbar miteinander umgegangen seid, obwohl oder gerade weil ihr (so glaube ich es unbekannterweise wahrzunehmen) alle beide auch manch Herzenskaltes erlebt habt. Danke fürs Teilen dieser Begegnung!
Wie lässig und vital er mit Sonnenbrille aus der Ferne aussieht und wie traurig und auch ein bisschen müde aus der Nähe. Danke fürs Erzählen, das hat mich sehr angefasst. Ein weggeräumter Zaubersessel, quasi. Schön, wenn so etwas wie ein scheinbar völlig deplatziertes, aber einladendes Möbelstück die Gewohnheiten durchbricht.
Ich glaube, dass viele Leute auf der Straße gar nicht "gescheitert" sind, sondern auf so fundamentale Weise nicht in den Rhythmus der restlichen Welt passen, dass sie sich dann eben neben ihr bewegen, nicht mittendrin, einfach weil ihr eigener Takt ein anderer ist und sie sich nicht in der Anpassung auflösen wollen. Wenn so jemand dann ein ganz besonderes, zur Mitteilung geeignetes Talent und die entsprechende Neigung hat und es sich in seinem Leben so ergibt, bejubeln ihn Menschen als Künstler. Ich wünschte, es wäre mehr Raum dafür, dieses Anderssein weder zu zelebrieren noch abzuwerten, sondern einfach hinzunehmen als eine der vielen Erscheinungsformen, die das menschliche Leben annehmen kann. So wie es aus Deinem Artikel klingt – mit wacher Neugier und Interesse füreinander.
Liebe Grüße
Maike
du schreibst und fotografierst
respektvoll – mitfühlend – strahlend
danke dafür
Als ob man den Sessel dort nur für Dich und Jaques aufgestellt hat, damit Du uns diese Geschichte schreiben konntest…
Danke!
Dieser Post und dieser Mann berühren mich auf eine sehr angenehme Weise!
Es sollten viel mehr Sessel rumstehen…
Danke für diesen Post!
Viele liebe Grüße,
Kerstin
schöne story, sehr schöne photos auch. danke!
Toller Post , vielen Dank dafür . :)) Wünsche Dir ein fabelhaftes Wochenende
LG heidi
Nicht vorbeisehen. Hinschauen.
Abwarten was kommt.
Oder was nicht kommt.
Danke für diesen mich erneut- bewegenden Text und die Bilder.
Grüße
Oona
Das rührt mich sehr an…
Liebe Grüße, Taija
What a difference a shabby Sessel doch macht… – vorausgesetzt eine "Seherin" wie Sie entdeckt ihn! Danke für eine wiederum wunderbare kleine Alltagsgeschichte und noch viele solcher Begegnungen! Grüße aus München von Heike.
Wunderschön. Oft wünsche ich mir, ich könnte fotografieren wie Du, aber noch mehr wünsche ich mir, ich könnte schreiben wie Du…
Was für ein toller Post. Schön das du mit Jaques geredet hast.
Ganz liebe Grüße von
Christine