Alaatin und die Straße

Mitten in Beyoğlu, einem Stadtbezirk von Istanbul, da, wo die Viertel Cihangir und Tophane ineinander übergehen, liegt eine schmale Straße, die seltsam vergessen wirkt. Ich gehe oft durch diese Straße, wenn ich in Istanbul bin; Elif lebt hier mit ihrer Familie, ich beobachte die kleinen Veränderungen und fürchte die Großen. Alaatin kraxelt plötzlich die kleine Böschung am Straßenrand herab und steht unvermittelt neben mir. Ich grüße, und er grüßt zurück. Weil ich etwas verwundert bin, wo er da her geklettert kommt gucke ich mich neugierig um und frage, ob er hier lebt. Alaatin nickt und zeigt vage hoch. Unter Bäumen hinter einem Geländer aus Dachlatten stehen zwei Stühle, die mir schon häufig aufgefallen sind. Seine Einladung hereinzukommen nehme ich sehr gerne an.

Zwischen Bäumen und Wurzeln klettern wir die kleine Böschung hoch und stehen vor einem versteckten, wild zusammengenagelten Bretterzaun, in dem sich eine improvisierte Tür befindet. Dahinter liegt ein kleines Grundstück auf einem Plateau, dicht umbaumt.  Eine niedrige Hütte, davor ein Tisch, eine Bank, ringsum verteilt Holzreste diverser Art. Rechts ein kleines Beet mit Tomaten- und Paprikapflanzen. Es hat ein bisschen was von einem verwilderten Schrebergarten, in dem die Hausordnung weise ignoriert wird. Ich staune und gucke, Alaatin steht neben mir und lächelt freundlich.
Ich betrete hier ein sehr besonderes Zuhause, und ich kann sehen, dass alles mit deutlich überschaubaren Mitteln, aber mit viel Sorgfalt zusammengezimmert ist. Irgendwo steht ein Besen, und der passt gut ins Bild.

Alaatin fragt, ob ich Kaffee möchte. Am Tisch gibt es eine windgeschützte Stelle für den Gaskocher, dort setzt er eine Kanne mit Wasser auf. Es gibt Cappuccino aus Portionstüten, und wir setzen uns vor die Hütte auf die Bank.

Und so sitzen wir erst mal einfach so da, sehr unaufgeregt, mehr muss gar nicht passieren. Alaatin ist ein sehr entspannter Gastgeber, und ich freue mich über das Glück dieser Begegnung.

Wenn man durch eine Lücke im Gebüsch sieht, dort, wo der Tisch mit den beiden Stühlen steht, dann geht der Blick zunächst über ein paar moderne Bürohäuser, und er endet an einem riesigen Kreuzfahrtschiff, das die Sicht auf den Bosporus versperrt.

Alaatins Zuhause befindet sich in Spuckweite zum neu gebauten Galata-Port, einer prunkgesättigten Shopping-, Ausgeh- und Flaniermeile am Bosporus. Luxusläden und Restaurants gibt es dort und den Anleger für die Kreuzfahrtschiffe mit unterirdischem Terminal. Um das Areal an einem der bewachten Zugänge zu betreten muss man durch einen Körperscanner, die Tasche kommt zur Durchleuchtung auf ein Rollband, alles wie am Flughafen. Blitzsauber ist es dort, modern und weltstädtisch, auch die Menschen.

Tophane, wo ich gerade bei Alaatin am Tisch sitze, ist ein unaufgeräumter, gewachsener Stadtteil mit freundlich-mürrischem Gesicht und nur dem nötigen Geld in den Taschen. Noch finden sich hier alteingesessene Bäckereien, die zweckorientiert ausgestattet sind: eine nüchterne Backstube mit Verkaufstisch, ein paar herumstehende Körbe voller Brot. In kleinen Lokantas wird einfaches Essen serviert, es gibt Läden mit Werkzeug und Haushaltswaren, und den Obstladen vom Mehmet Ali. Auf den Straßen wird geschäftigen Schrittes viel gewunken und gegrüßt, man kennt sich.

Dazwischen streuen sich zunehmend die Geschäfte einer anderen Welt ein; Keramikläden die sorgfältig ausgesuchte Waren kleiner Manufakturen führen, individuelle Modeläden, Magazin-Shops die ebenfalls Dinge des täglichen Gebrauchs verkaufen, aber chicer, moderner und teurer, drapiert auf hübschen Teppichen und Flokati-Fluff. Wahlweise für Touristen die abseits der Massen-Souvenirläden unterwegs sind, oder eben für jene neue Anwohnergruppe, die die steigenden Mieten bedienen kann.

 

Alaatin lebt seit ungefähr zwei Jahren hier, ein Freund hat ihm zu diesem Platz verholfen. Davor hat er auf der Straße gelebt. Er holt sein Handy hervor und zeigt mir auf YouTube Filme, die von dieser Zeit erzählen. In einem sitzt er zum Interview auf einem riesigen roten Sofa in einem Fernsehstudio ohne Publikum, in einem anderen wird er dokumentarisch auf der Straße begleitet (mit deutschen Untertiteln).

Wir führen unser Gespräch auf holprige Weise; meine begrenzten Türkisch-Kenntnisse helfen mehr beim Zuhören als beim Sprechen, wir schreiben Zahlen auf ein Blatt Papier und kritzeln einzelne Wörter als Bild. Alaatin spricht in sein Handy und der übersetzte Text erscheint in englisch auf dem Display. Insgesamt aber reden wir gar nicht so viel.

Die Geschichte, die Alaatin zu erzählen hat passt nicht in wenige mühsam übersetzte Sätze, das wird sehr schnell klar. Über 35 Jahre hat er auf der Straße gelebt, und er tut es noch, wenn auch unter etwas komfortableren Umständen. Dass sich das Viertel verändert, dass der Galata-Port für Tophane, für die Straße in der er lebt, für sein geliehenes, fragiles Zuhause wie eine Drohung ist, dass die Zeit läuft, das sieht Alaatin. Er hofft, dass er es nicht miterleben muss.

Ein junger Mann kommt plötzlich durch die Tür und tauscht zwei Wasserkanister. Ein paar Worte werden gewechselt, dann verschwindet der junge Mann wieder. Alaatin hat nicht viele Freunde, sagt er. Ein paar Katzen leben bei ihm, Futter für sie steht immer parat. Freunde des Schicksals nennt er sie.

Während ich diesen Text schreibe, schreibe ich auch an Alaatin und frage, wie es ihm geht. Er schickt mir Fotos: um den Tisch an der Hütte hat er sich aus Brettern, Pappkarton und Plastikplanen einen Wetterschutz für den Winter gezimmert. Statt eines Fensters gibt es ein Viereck aus durchsichtiger Plastikfolie.

Anfang November hatte er Geburtstag; Alaatin ist jetzt 65 Jahre alt. Er schreibt, dass es ihm nicht gut geht. Er hat seit längerem diverse Krankheiten mit aktuellen Beschwerden und Schmerzen. Zum Arzt zu gehen kann er sich nicht leisten, er hat kein Geld für Medikamente, er hat kaum Geld für das Nötigste. Im Sommer hatte er einen Herzinfarkt. Weil das ein Notfall war wurde er im Krankenhaus umsonst behandelt. Für weitere Arztbesuche und Behandlungen benötigt er Geld.

Kurz darauf schreibt Alaatin mir noch eine Nachricht: Der Besitzer des kleinen Grundstückes ist gestorben. Seine Enkelkinder sind gekommen und haben Alaatin gebeten den Platz zu verlassen. Zehn Tage hat er dafür Zeit. „Das ist die Situation“, schreibt Alaatin.

Die Zahl der Obdachlosen in Istanbul wächst, Hilfe bekommen sie kaum.

Ich habe eine kleine Spenden-Aktion auf gofundme gestartet: Essen und Medikamente für Alaatin.  Das Geld, das dort zusammenkommt ist für nötige Arztbesuche, Untersuchungen und Medikamente sowie für Nahrungsmittel und andere Bedarfsartikel. Das Geld wird entweder über eine Vertrauensperson in Istanbul direkt an Alaatin übergeben, oder er erhält es per Überweisung. Momentan organisiere ich mit der Unterstützung einer Freundin, Hajer Hamdi, die einige Jahre in Istanbul gelebt hat und dort über gute Kontakte verfügt, die Form der Übergabe.
Vielleicht mag sich der eine oder die andere beteiligen, jede noch so kleine Summe ist von Herzen willkommen.

 

Update am 19.11.2022, Spendenaktion beendet

Ich möchte allen Spender*innen von Herzen Danke sagen! Es ist unglaublich, wie groß die Hilfsbereitschaft ist; in wenigen Tagen sind 765 € zusammengekommen.
Von Herzen Danke! Auch im Namen von Alaatin:
„Ich würde mich freuen, wenn Sie den Spendern meinen unendlichen Dank übermitteln würden.“
Ein Teil der Summe in Höhe von 200 € ist bereits bei ihm. Er schreibt, dass sich seine Situation sehr verbessert hat und er ist sehr dankbar und froh, sich nun um seine Gesundheit kümmern zu können.

 

14.11.2022

6 Comments

  • Ute sagt:

    Schön, dass du das organisierst. Danke dir, Smilla!

  • Gitta sagt:

    Danke für Deinen liebevollen Bericht über diesen ( und andere) besondere Menschen. Habe einen kleinen Tropfen auf den heißen Stein gespendet. LG Gitta

  • Samira sagt:

    Was ein wundervoller, warmherzig mitreissender Blog! Alaatin wurde direkt von Dir in mein Herz geschrieben und fotografiert. Gibt es die Möglichkeit nochmal zu spenden? Gerade ist es leider nicht mehr möglich.

    • Smilla sagt:

      Liebe Samira, danke für deine netten Worte! Ich habe die Spendenaktion beendet und wickele sie nun komplett ab. Das Ziel von 500 € ist deutlich übertroffen worden, das ist richtig toll. Danke, dass du gerne gespendet hättest!

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