Wenn Mehmet Ali sich auf seinem Hocker ein wenig nach vorne beugt, dann kann er das Haus sehen, in dem er zur Welt gekommen ist. Der Hocker steht in der hinteren Ecke seines kleinen Obst- und Gemüseladens, sein Geburtshaus befindet sich schräg gegenüber. Es ist ein mehrgeschossiges Wohnhaus, mit Giebeln und Erkern. Groß, stolz und doch wie nebenbei steht es da, im Herzen von Tophane – bestimmt schon 100 Jahre lang.
Seit 50 Jahren verkauft Mehmet Ali in dem kleinen Eckgeschäft Obst und Gemüse. Eigentlich ist es gar kein richtiger Laden – mit eigenen Wänden und einer Tür. Es ist eher eine Art Kiosk, oder ein etwas komfortablerer Stand. Es war eben noch eine Ecke frei in dem zusammengewürfelten Häuserblock, und irgendjemand hatte die Idee, dort einen Verkaufsraum hinzubauen. Vielleicht war es Mehmet Ali selbst. Ich kann ihn leider nicht fragen, denn wieder mal sitze ich in Istanbul bei einem Menschen, dessen Sprache ich nicht spreche. Wir verständigen uns also in Zeichensprache, ich male auch schon mal was auf ein Stück Papier, und Mehmet Ali versucht es mit der Wiederholungstaktik. Bestimmte Sätze sagt er einfach mehrfach hintereinander, in gebührender Lautstärke. Hin und wieder legt er seine Hand auf meinen Arm, als könne er so seine Fähigkeit türkisch zu sprechen auf mich übertragen.
Ein bisschen fühle ich mich wie beim Kaufmanns-Laden spielen, und das gefällt mir. Ich trinke einen Schluck und versuche Haltung zu bewahren. Was da in dem Becher ist weiß ich nicht, Orangensaft ist es jedenfalls nicht. Es ist pappsüß und schmeckt genauso bunt wie es aussieht. Jetzt fallen mir auch die 2 Slush-Maschinen auf, die neben der Orangen-Presse stehen. Mehmet Ali winkt aus seiner Ecke herüber, schenkt mir sein schönstes Lächeln und fängt an zu raten, woher ich komme. Nein, nicht aus England, schüttele ich den Kopf: Almanya.
Natürlich reicht unser pantomimisches Vokabular für eine so komplizierte Geschichte nicht aus. Aber Mehmet Ali ist ohnehin schon beim nächsten und beim übernächsten Foto. Er zeigt mir seinen Vater, seine Mutter, seinen Opa und seinen Bruder, oder Neffen oder Onkel, genau weiß ich es nicht. Fotos einer eigenen Familie zeigt er mir nicht.
Gut ein Viertel des Ladens ist vollgestellt mit alten Dingen: ein Regal, eine Kiste, ein Irgendwas und für einen Gemüseladen auffallend viele alte Spiegel.
Mehmet Ali deutet auf eine zugestellte Wand. Darauf gemalt sieht man einen Torwart in Aktion, oder zumindest sieht man noch einen Teil des Bildes.
Ich mache Fotos und Mehmet Ali hat Kundschaft. Ein junges Paar, Touristen wie es scheint, bestellt zwei ‚Fresh Orange Juice‘.
Das Paar zieht mit den gelben Getränken davon und Mehmet Ali lädt mich nun zum Tee ein. Laut schreit er einen Satz in die Luft, in dem ich nur das Wort Cay wieder erkenne. Wenige Minuten später kommt ein Mann mit einem Tablett und zwei Teegläsern herbei geeilt.
Jetzt möchte Mehmet Ali auch etwas über mich erfahren: zum Beispiel ob ich Kinder habe. Ich verneine, und seltsamerweise fällt es mir nicht ein, die Gegenfrage zu stellen. Dass ich keine Kinder habe scheint er zu bedauern, oder aber er geht davon aus, dass ich selbst es bedauere und will Anteilnahme ausdrücken. So schwierig ist es eben, Blicke richtig zu deuten. Ich sei ‚çok güzel‘ (sehr hübsch) versichert er mir und macht eine anerkennende Geste die meinen Bauch betrifft. Vielleicht denkt er auch, ich müsse doch wohl gerade schwanger sein – ich weiß es nicht.
So vieles würde ich ihn gerne fragen. Wie sich die Straße verändert hat, wie er Istanbul erlebt und wo er heute wohnt. Mich interessiert wieviele Stunden er jeden Tag in seinem Laden verbringt, was es mit der Mafia auf sich hat, wo er sein Gemüse kauft und ob er gut leben kann von seinem Geschäft.
Und noch so viel mehr könnte ich ihn fragen. Manche Fragen fallen mir erst später ein, manche Fragen die ich habe erfordern einen Dolmetscher. Aber ich ziehe nicht los, um einen zu suchen. Es ist schön, mit Mehmet Ali gestenreich herumzuradebrechen, und mich ein bisschen zuhause zu fühlen in Istanbul.
Hach, wieder so ein schönes Hindurchgehen durch Türen, die es gar nicht richtig gibt! Davon scheint es in Istanbul so einige zu geben…
Danke für's Teilen dieser Begegnung, an der ich mich lesend und schauend sehr freuen kann!
Als Jemand der so gut wie gar kein Auswärtig spricht, kenne ich diese Radebrechen sehr gut. Ebenso das Bedürfnis durch Hand auflegen jemand verstehen zu können, obwohl ich das nie tue.
Eine schöne Geschichte, danke fürs erzählen.
Wunderbar, was man beim Radebrechen alles erfahren kann! Schönes Portrait mal wieder – in Wort und Bild!
Deine Geschichte und Bilder berühren mich gerade sehr. Ich hatte eine Freundin, die aus Istanbul kam. Wir wollten gemeinsam diese Stadt besuchen. Bevor wir die Reise unternehmen konnten, ist sie gestorben. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.
Vielleicht ist irgendwann die Zeit gekommen, alleine in diese bezaubernde, beängstigende Stadt zu reisen…
LG Sylvia
Yeah.
Alles ganz große Klasse hier. Fotos (sowieso!), Texte. – Wie freundlich vieles aussieht ('zurückschaut'), wenn man es freundlich anschaut.
Und Istanbul interessiert mich auch schon lange. Wie so manches andere Sache, über die so viele Klischees kursieren. Müßte man 'mal hin, um so'n Vollkontakt-Eindruck zu bekommen – der einen mit Sicherheit ganz anders zurücklassen würde than under the influence of these images you get stuffed with everyday.
Dank! für Deine Mühen.