Abendlicht am Bosporus

In Istanbul sind die Tage kürzer als in Deutschland, es wird früher Abend, die Dunkelheit senkt sich schneller herab. Die Schatten werden früher lang, das Licht wird früher golden und dann geht alles ganz flott und zack, ist es dunkel. Immer wieder bin ich verblüfft darüber, wie früh und wie rasch der Tag zu Ende geht. Ich mag diesen schnellen Wechsel, ich mag die Lichter des Abends und der anbrechenden Nacht und diese gleichzeitig unerschütterlich fortgesetzte Betriebsamkeit, die in Istanbul an vielen Orten erstaunlich wenig städtisch wirkt.

Um herauszufinden, wie lang die Tage hier und dort nun wirklich sind, habe ich mal zwei Tabellen mit entsprechenden Daten verglichen und war doch erstaunt über das Ergebnis: der Unterschied ist weit weniger drastisch als ich es erwartet habe. Am 24. Juli diesen Jahres, an dem einige der folgenden Fotos entstanden sind, ging die Sonne in Istanbul nur eine Stunde früher unter als in Köln, (wo ich lebe). Beim Sonnenaufgang lagen zwischen Istanbul und Köln sogar nur sechs Minuten.

 

Der Schlüssel ist die Dämmerung. In der Wissenschaft kennt man drei Arten von Dämmerung: die nautische, die astronomische und die bürgerliche. Wussten Sie das alle? Ich nicht. Ich habe das soeben erst gelernt und im Anschluß auch diese Zeiten verglichen. Es zeigt sich, dass in Istanbul die astronomischen Dämmerungsphasen deutlich kürzer sind als in Köln. Rechnet man ab Beginn der astronomischen Morgendämmerung bis Ende der selbigen Abenddämmerung sind das an diesem speziellen Julitag 3,5 Stunden Unterschied.

Das in  Kombination mit der kürzeren Tagesdauer bestätigt mein Gefühl, dass es in Istanbul viel schneller und gründlicher dunkel wird, oder anders gesagt, dass man gnädig früh in den Abend entlassen wird. Denn ich mag diese kürzeren Tage und ihre frühe Dunkelheit. Mir sind die Tage hier in Deutschland im Sommer eindeutig zu lang. Ich sitze gern im Dunkeln rum und freue mich, dass sich alles mal ein bisschen beruhigt. In Istanbul beruhigt sich zwar scheinbar erst mal gar nichts; es sind nicht weniger Menschen unterwegs, die Geschäfte schließen nicht, der Autoverkehr lässt nicht nach. Aber die Dunkelheit bringt dennoch Ruhe, denn sie trägt das Ende auch des Arbeitstages vor sich her, streut Gelassenheit unter die Betriebsamen und lädt zum Sitzen ein.

Dass sich der Übergang vom Tageslicht zum Abenddunkel so schnell vollzieht passt gut zum Wesen dieser Stadt. Zögern ist nicht ihre Art. Die Fähren sind ein gutes Beispiel; kaum legt eine Fähre an, strömen die Menschen aus ihr heraus und in sie hinein, schon legt sie wieder ab, und bevor man noch richtig sitzt, kommt schon der Mann mit dem Tablett voller Teegläser. Aber Hektik ist das nicht, eher unprätentiöse Entschlussfreude. Nicht lang fackeln und das Herz am rechten Fleck.

30.10.2022

6 Comments

  • Simona sagt:

    Hach.Genauso ist es. ?

  • Anna sagt:

    „Wussten Sie das alle?“ – Nein, wusste ich nicht – und auch weiß ich nicht, ob hier jetzt das Siezen Tradition wird?? Ich wage mal, weiterhin zu duzen und sage einfach danke für die schönen Bilder und teile mit, dass ich auch in meinem ganz anderen Leben, was mich noch nie nach Istanbul geführt hat, Deine Sympathie gegenüber der Dunkelheit teile. So hab ich mich heute auch gefreut, als ich bewusst wahrnahm, wie früh es nun dunkel wird.

    • Smilla sagt:

      Haha, nein, das wird keine Tradition. Ich bin da uneindeutig, so oft muss ich es in den Texten ja auch nicht entscheiden, hier hatte ich Spaß an dem Satz.
      In den Kommentaren wechseln sich sitzen und duzen ab, in der Regel passt das dann.

  • Trulla sagt:

    Ich war nur einmal vor Jahren in Istanbul, dieser west-östlichen, großartigen Stadt, die tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Ihre wunderbaren Bilder, liebe Smilla, transportieren die Atmosphäre sehr gut. Die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit der Menschen, die uns dort begegneten, bei aller Unterschiedlichkeit im äußeren Auftreten (von total modern bis tiefst verhüllt) zeigte die Möglichkeiten friedlicher Koexistenz in einer Gesellschaft.
    Wenn nur, ach ja, wenn nur die Ära Erdogan mit ihrer Willkür doch endlich enden würde und nicht mehr der Rückschritt Methode wäre.

  • Croco sagt:

    Was für schöne Bilder! Und immer sind Menschen drauf eingefangen, die gerade was tun. Das mag ich am liebsten an Deinen Fotos. Sie sind so liebevoll.
    Das mit der Dämmerung ist mir vor vielen Jahren in Westafrika aufgefallen. Am Äquator gibt es keine Dämmerung und somit keinen ordentlichen Sonnenuntergang.
    Die Sonne verschwindet einfach in Sekunden und plötzlich ist es stockdunkel.

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