Wenn die Gedanken andere Wege nehmen

 

Dass die Zahlen Eins und Zehn etwas miteinander zu tun haben, hat Sophia schon früh im Mathe-Unterricht erfahren. Verstanden hat sie es nicht. Überhaupt sind ihr die Zahlen und das Rechnen schleierhaft geblieben. Bestimmte Dinge, Zahlenreihen oder das Einmaleins, hat sie einfach auswendig gelernt, ohne einen Zugang zum Sinn des Ganzen zu haben. Erst in der elften Klasse ist schließlich klar geworden, dass Sophia Dyskalkulie hat. Bis dahin hat Sophia in der Annahme gelebt, dass sie wohl dumm sein muss. Dümmer jedenfalls als alle anderen, die offenbar keine Probleme mit der rätselhaften Welt der Zahlen hatten.

Nicht zu verstehen, was alle anderen offenbar problemlos zu lernen imstande sind, hat Sophia als entmutigend und auch als isolierend erlebt: „In der Schule gibt es einen Weg, wie man zu denken hat, und wenn man anders denkt, dann ist man raus,“ sagt Sophie. In manchen Fächern hatte Sophie keine Probleme, und insgesamt war sie gar nicht schlecht in der Schule. Aber dennoch hatte sie meist das Gefühl, dass ihre Gedanken andere Wege nehmen und sie immer noch eine Frage hat: „Es wurde viel erklärt und am Ende dachte ich oft: ‚Ja. Aber warum?‘ “ Warum ist etwas wie es ist, warum genau, und ist es wirklich so?

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Nachdem bei Sophie die Dyskalkulie festgestellt wurde hat sie eine Therapie gemacht, die ihr geholfen hat zu verstehen was Zahlen bedeuten, wie sie zusammenhängen und dass sie beispielsweise Mengen benennen können.  Das hat nicht nur ihren Alltag erleichtert, sondern ihr auch geholfen zu erkennen, dass sie keineswegs dumm ist.
Abitur hat Sophia trotzdem nicht gemacht. Als sie von der Schule abgegangen ist hat sie sich einer Band angeschlossen, mit der sie durch die Weltgeschichte gereist ist. Anschliessend war sie in Albanien und hat dort in einem Entwicklungshilfe-Projekt mitgearbeitet. Erst danach hat Sophia sich entschieden ihr Fachabi zu machen, mit dem Bildungsschwerpunkt Sozial- und Gesundheitswesen.
Angst vor dem Unterricht hat Sophia heute nicht mehr. Er macht ihr im Gegenteil sogar richtig Spaß.

Übrigens hat Sophia heute Geburtstag; sie wird 21. Verbringen wird sie ihn mit ihrer Familie, und die ist recht groß: Sophia hat fünf Geschwister. „Außerdem haben wir noch sechs Hühner und fünf Katzen.“
Liebe Sophia, ich danke dir für die sehr schöne Begegnung. Lass dich tüchtig feiern! Immer.

Auf der Seite der Universität Bielefeld gibts ein paar grundsätzliche Infos zum Thema. 
Den Trailer „Ich hab Leghasthenie oder Dyskalkulie – na und?“, sowie kurze und schön gemachte Videointerviews mit betroffenen Jugendlichen finden sich auf der Seite des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V
Dyslkalkulie im Netz hilft Eltern, Lehrern und Kindern mit gezielt gestalteten Seiten weiter: für Lehrer und Eltern; für Kinder.  

14.11.2013

11 Comments

  • Glorious sagt:

    Das ist echt traurig dass anfangs niemand ihre Dyskalkulie erkannt hat – die Arme! Das tut einem echt im Herzen weh:(

    Danke dass du stark geblieben bist Sophia!

  • Anna sagt:

    Nun weiß ich nicht, ob ihr euch tatsächlich heute getroffen habt oder ob du den Post bewusst genau heute veröffentlicht hast, sprich: ob heute das "heute" ist, an dem Sophia Geburtstag hat. Wenn ja: Alles erdenklich Gute für Dich auf Deinem Weg, liebe Sophia!

    Obwohl meine Mutter und ich fast immer in Bielefeld gewohnt haben, bin ich nie in der Beratungsstelle in der Uni gewesen; auch dann nicht, als meine Mutter (ausgebildete Mathelehrerin!) sich wegen meiner noch in der Berufsschule anhaltenden Matheprobleme mal mit dem Thema Dyskalkulie befasst und mir dann so eine Testaufgabe gestellt hat, die ich dann prompt so löste, wie wohl viele Dyskalkuliebetroffene – und das Ganze meinerseits übrigens ohne auch nur die Spur eines Gefühls dazu, wie ich es denn "richtiger" hätte rechnen sollen. Meine Mutter sprach dann von der Beratungsstelle und meinte, wenn sie das geahnt hätte, hätte sie mich dahin geschickt. Auch wenn ich nun lese, dass es Sophia dank der Therapie auf mehreren Ebenen besser ging, muss ich zugeben, das ich damals zynischerweise dachte: "Wie gut, dass meine Mutter es NICHT geahnt hat!" Es fühlte sich an als hätte ich wenigstens einen Bereich an oder in mir davor gerettet, dass an ihm herumtherapiert worden wäre… Ich weiß also bis heute nicht, ob bei mir tatsächlich Dyskalkulie diagnostiziert worden wäre, finde mich aber in vielem wieder, was Sophia über sich erzählt.

    So lässt mich dieser Post gerade irgendwie nachdenklich zurück…

  • christjann sagt:

    Ich habe erst vor kurzem begriffen, dass ich davon betroffen bin – ich schreibe und sage Zahlenpärchen verkehrt herum, ich habe nie das Rechnen mit Minuszahlen begriffen und beim Ausmultiplizieren von Klammern nahm mein Ergebnis oft eine Doppelseite ein, dabei hätte so etwas wie x=-1 rauskommen sollen. Ich kann nicht richtig rechnen, nicht mal 11+3 ist leicht, ich traue dem Taschenrechner nicht, rechne alles doppelt und dreifach, und bin dann immer noch unsicher — aber das alles hat nie jemand begriffen, zu meiner Zeit war Legasthenie noch nicht wirklich anerkannt, geschweige denn Dyskalkulie und ich war ja sonst so ein kluges Kind … als ich die Seite "wie sieht ein Kind mit Dyskalkulie eine Seite im Mathebuch" anklickte, machte es "klick" in meinem Kopf – ich habe wieder gespürt wie schwierig diese Aufgabenpäckchen für mich waren und wie abstrakt diese Zahlen noch immer sind – 11 plus 3 ist immer noch nicht leicht … verrückt, oder? Danke!

  • Vielen Dank an die Schreiberin und an Sophie, die sich hier so mutig zeigt. Eine beeindruckende mutige junge Frau wird hier vorgestellt, die trotz Widrigkeiten ihren eignen Weg ging.
    Es gibt so oft unterschiedlich begabte Menschen, die manches besonders gut können und mit anderem Schwierigkeiten haben. Leider ist es für viele eine Odyssee, bis klar wird, dass es keine Faulheit oder Dummheit ist, sondern eine Schwäche in einem Bereich.

    Die Diagnose kann dann wie eine Befreiung sein, auch das Kennenlernen von anderen Betroffenen.

    Wie schön wäre eine Welt, in der weniger "Leistung" bei Kindern bewertet als vielmehr Lebensbegleitung gegeben wird.

    Für mich selbst habe ich festgestellt, dass ich , wenn ich außerhalb von Leistungsdenken bin, mehr Frieden mit mir selber finde.

    Daran hat mich dieser schöne Artikel erinnert und mich heute beschenkt.

    es grüßt lächelnd Anne (die Rosendame)

  • Ich bin fast doppelt so alt wie Julia, und ich kann bis heute nicht richtig rechnen. Weiss gar nicht, seit wann es den Begriff Dyskalkulie gibt. Vielleicht hätte es mir geholfen…
    Die schlimmsten Jobs waren an der Supermarktkasse und in der Gastronomie, wo ich mir alles von wohlwollend-hilfreich bis hämisch anhören durfte, wenn ich nicht im Kopf ausrechnen konnte wieviel Rückgeld fällig war…heute bin ich cooler. Wenn eine Kundin bei mir im Atelier staunt, dass ich einfachste Additionen mit dem Taschenrechner mache (ja, manchmal auch mehrmals weil ich sicher sein will) sage ich einfach wie es ist und gut. Viele sind dann ganz überrascht weil sie nie was davon gehört haben.
    Wenn ich heute wichtige Zahlen zu "wuppen" habe hole ich mir Hilfe.
    Das allerbeste für die junge Julia!

  • smilla sagt:

    Oh, ich hab sie heute getroffen und ganz frisch gepostet, das erschien mir passend 🙂
    Ich finde deine Gedanken übrigens gar nicht zynisch, sondern sehr nachvollziehbar, angesichts deiner eigenen Historie.

  • Sternenguckerin sagt:

    Ooops…Sophia natürlich, nicht Julia! Sorry!

  • Anna sagt:

    DANKE, Smilla!

  • Anonym sagt:

    zweiter Versuch:
    Ein Familienmitglied ist Legasthenikerin. Da weiß eine – und letztlich auch nicht wirklich – wie es ist wenn die Buchstaben fremd bleiben. Nur reines sich merken macht heute den Vater nicht zum Fater und das Wort "völlig" oder "viele" schreibt sie mit kleinem Innehalten dann nicht mit f. Das ist nur ein winziges Beispiel.
    Einen Ausbildungsplatz zu bekommen war schwer.

    Heute hat sie zwei Kinder. Sie hat den LehrerInnen in der Schule gesagt, dass sie Legasthenikerin ist und somit den Unterrichtsstoff in Deutsch und anderen Fächern nicht so gut begleiten.
    Das fand ich sehr mutig von ihr.

    Das es Dyskalkulie gibt, dass wußte ich nicht. So lernt eine immer noch dazu :O)

    Für Sophia nur das Allerbeste, was immer sie sich wünscht.

    Oona

  • PastelRebel sagt:

    Ich muss jetzt einfach mal loswerden, dass das hier der aller beste Blog ist, den ich seit langen gelesen habe.
    So dermaßen Interessante Posts, kaum zu glauben,
    Freu mich immer wieder auf Neues.

    Sophie wünsche ich alles erdenklich Liebe und Gute!

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