Typ des Jahres

 

„So zu sein wie ich bin, das ist zuerst einmal meine eigene Wahrheit“, so hat Conchita Wurst zur dpa gesprochen. Sie sei kein Vorbild und sie erwarte nicht, dass sich nun jeder junge Mann eine Perücke aufsetze und dazu einen Bart trage. (nachzulesen zb. bei FAZ.net)
Ein paar junge Männer haben es aber doch getan, und sogar auch eine junge Frau: beim diesjährigen CSD in Köln war Conchita Wurst zwar nicht persönlich anwesend, aber dennoch irgendwie dabei.
Vermutlich kennen die Conchita-Doubles auch ihre ganz eigene Wahrheit; für diesen Tag jedoch haben sie ein populäres Bild gewählt, um sich und ihren Standpunkt zu zeigen. Ein Bild, das – zumindest in meinen Augen – für Mut, Präsenz und Freiheit steht. Und, ja, auch für Pathos. Na und?

Natürlich ist das Bild der Conchita Wurst keinesfalls für jeden positiv besetzt. Der russische Politiker Wladimir Schirinowsky sieht die Sache gänzlich anders: „Unsere Empörung ist grenzenlos, das ist das Ende Europas“, sagte er im russischen Fernsehen.

Von der Zukunft erhoffen sich wohl die meisten Menschen, dass sie gut wird. Vielleicht sogar besser: als das Jetzt, als das Vergangene. Den Ausruf „We are unstoppable!“ den Conchita Wurst mit hochgereckter Faust in die Weiten der Eurovison-Song-Contest-Welt hinaus schallen ließ, verstehe ich als Selbstermächtigung. Als eine Ankündigung die eigene Zukunft lebenswürdig zu gestalten, dafür zu kämpfen, dass Homosexualität nicht verheimlicht werden muss.

Morgen endet die WM. Aber nach der WM ist ja vor der WM, oder so ähnlich. Jedenfalls winkt aus der Ferne schon die nächste WM herüber. Und auch die Übernächste. Beide finden in Ländern statt, in denen Homosexuelle diskriminiert werden: in Russland ist ‚Homosexuellen-Propaganda‘ verboten, in Katar Homosexualität gleich ganz.
Für das Tabuthema Homosexualität im Fussball ist die Zukunft in Bezug auf etwaige Unstoppable-ität also durchaus als trübe zu betrachten. An dieser Stelle ist übrigens meine Empörung grenzenlos: da kann die FIFA Antidiskriminierungs-Banderolen auf dem Spielfeld ausrollen lassen wie sie will. Die nächsten 8 Jahre hat sie vorgefärbt.
Ende Juli bekommt der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger bei der 11 Freunde Meisterfeier in Hamburg einen Preis überreicht: in der Kategorie Typ des Jahres. Hitzlsperger hat im vergangenen Januar seine Homosexualität öffentlich gemacht. Auch ihm geht es um einen normalen Umgang mit Homosexualität; darum, sich nicht damit verstecken zu müssen.

Eigentlich ist es bitter, dass die Entscheidung, die eigene sexuelle Ausrichtung nicht länger zu verheimlichen eine öffentliche Ehrung des Fußballers nötig macht. Mit Blick auf die herrschenden Umstände aber ist es leider prima und als Zeichen von Akzeptanz und Solidarität zu werten.

Conchita Wurst ist für mich auch so ein Typ des Jahres. Beim CSD haben sich ein paar andere Conchitas mit ihr solidarisch gezeigt, oder ihr möglicherweise die Ehre erwiesen. Oder beides. Ich habe mich jedenfalls über jede Conchita gefreut.


12.07.2014

8 Comments

  • Wie immer großartig, danke liebe Smilla!

  • Anna sagt:

    Ich "oute" mich jetzt mal: Ich kann mit Conchita Wurst einfach nicht viel anfangen. Ich ahne, dass das sehr persönliche, eher irrationale, für andere vielleicht nicht nachvollziehbare und, ja, auch nicht faire Gründe hat. Und vielleicht ist es feige, diese hier nicht ausbreiten zu wollen. Dennoch sehe auch ich mich mitnichten auf der Seite derjenigen, die sich zu Conchita Wurst und zu dem, was sie/er tut, derart menschenverachtend äußern wie in den von Dir recherchierten Quellen zu lesen! Deswegen auch von mir ein Danke an Dich, Smilla, für Deine gründliche Recherche und Deine Deutlichkeit!

  • lisa kötter sagt:

    Wunderwunderbar. Bilder und Worte.
    Herzlichst
    Lisa

  • J. Usako sagt:

    Toller Artikel! Conchita <3

  • Was für tolle Bilder. Und tolle Worte.
    Ich kann z. B. mit dem ganzen ESC-Kram nix anfangen, habe aber den Beitrag von Conchita Wurst mit einer Gänsehaut erlebt.
    Weder "meine " Musik noch "mein Style" aber eine wahnsinns Vorstellung und eine wahnsinns Botschaft. Was für ein Vorbild.
    Danke für den tollen Artikel!
    Ahoi,
    Meike

  • Toll 🙂 dankeschön toller Artikel. Freue mich dich jetzt öfter zu lesen

    Die eine in der Masse
    http://www.ich-lebe-dein-traum.blogspot.com

  • Ich find´s prinzipiell gut, wenn mehr Toleranz Einzug nimmt. Was jedoch von mir nicht verstanden wird. Wenn man jemand kritisiert, der beispielsweise wie Conchita Wurst, anders ist, wird das immer zum Anlass genommen, Intoleranz zu unterstellen. Man darf keine Kritik üben oder eine abweichende Meinung haben. Heikel. Ich persönlich mag den Conchita Style nicht, spreche ihn aber keinesfalls ab. Gruß, Sascha

  • Anna sagt:

    Das passt hier jetzt nicht so richtig hin, zu genau diesem Post; genauso gut könnte ich's zu jedem Post schreiben, aber ich muss sofort an Dich, Smilla, und Deine wunderbaren Fotos denken, als ich soeben im Radio höre: Die Fotografie wird heute 175 Jahre! Herzlichen Glückwunsch also an die Fotografie, und an alle, die ihr – so sehr sie sich auch in 175 Jahren verändert hat von der Technik her – mit so viel Herzblut nachgehen wie Du, Smilla!

Schreibe einen Kommentar zu J. Usako Abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© Smilla Dankert 2019 | Impressum | Datenschutz