Sechsundsechzig Jahre Übung

 

Jacqueline dürfte eine der meistfoto­grafierten Frauen von Brügge sein. Jeden Tag, ab ca. 14 Uhr baut sie Stuhl und Klöppeltisch im Türrahmen ihres Hauses auf. Das befindet sich im Kern der Altstadt und liegt somit genau auf der Route der unzähligen Touristen, die sich schlendernd durchs Backsteinhäusermeer bewegen.
Natürlich bleibe auch ich stehen und gucke Jaqueline beim Klöppeln zu; Handwerk fasziniert mich meistens, und in diesem Fall werden obendrein Erinnerungen an meine Großmutter wach, die nur selten mal keine Näh-Strick- oder Stecknadeln in ihren flinken Fingern hatte (letztere auch gerne mal im Mund).
Jacqueline probably is one of the most-photographed women of Bruges. Every day, around 2 pm, she puts a chair and a table with her lace pillow at the door of her house. Jacqueline lives in the heart of the old town and so her house is located at the route of all the many tourists, which are strolling through the sea of brick-houses.
Like many others I also stand still for a while and watch Jacqueline knipling; handicraft usually fascinates me, and in this case memories are brought back to me: of my grandmother, who rarely had no knitting- or sewing-needles or pins in her skilful fingers (the latter she often used to hold with her mouth, as well).

Jacqueline ist sechsundsiebzig Jahre alt, mit zehn hat sie begonnen zu klöppeln. Das sind sechsundsechzig Jahre Übung, die sich in nicht nachvollziehbaren Wurf- und Knot­bewegungen zeigen, die Jacqueline in be­eindruckendem Tempo und ohne Unterlass mit den Bobinen vollführt.
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Jacqueline is 76 years old, at the age of 10 she started to learn lace-making. That are 66 years of practise, which become apparent when Jacqueline extremely fast and unceasingly throws the bobbins around.

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Während ich bei Jacqueline stehe wird sie gefühlte fünfzigmal fotografiert, nur sel­ten wird sie gefragt, was ich irgendwie befremdlich finde. Andererseits wäre es sicher auch nicht in Jacquelines Sinne dauernd nicken und zustimmen zu müssen. Ich selbst kann aber nicht anders und frage nach. Dafür warte ich auf einen der seltenen Momente, in denen außer mir gerade keiner da ist. Schnell stelle ich auch ein paar Fragen, aber da kommen schon die nächsten Interessierten und ich muss mich überwinden das Gespräch dennoch weiterzuführen. Schau-Klöppeln und Schau­Sprechen; mir fällt das nicht so leicht, Jacqueline ist routinierter.
While I stand at Jacquelines door she continously gets photographed, only a very few people ask her before, strangely enough to my mind. On the other hand it wouldn’t be in Jacquelines interest, if she permanently had to agree and nod. But I can’t help it; I ask her if I can take her picture. Therefore I wait until one of the rare moments, when nobody else is around, and I take the chance to ask some questions, as well. But again there are people, and I have to bring myself to keep talking. Show-lace-making and show-talking; not so easy for me, Jacqueline obviously is more experienced.

Zwei oder drei Tage arbeitet Jacqueline an einer kleinen Häkeldecke oder einem Untersetzer. Mal für 12, mal für 20 Euro verkauft sie dann ihr Werk: „Leben kann man davon nicht“ antwortet Jacqueline schon beinahe erschüttert über meine naive Frage. Auf dem Klöppeltisch befindet sich ein kleines Körbchen, in das manche Touristen etwas Kleingeld werfen.
It takes Jacqueline  two or three days to finish a small doily or a table mat. She gets 12 or 20 Euros for one: „You can’t make your living of that,“ Jacqueline answers almost shattered by my naive question. At her desk, in front of her lace-pillow, she has a little basket, where tourists can put some money in.

Jacqueline liebt das Klöppeln, sie mag es konzentriert zu arbeiten, ihre geübten Handgriffe zu vollführen und die Gedanken schweifen zu lassen. Dabei hat sie nicht etwa ein Klöppelmuster neben sich liegen; was zu tun ist wissen ihre Finger, in ihrem Kopf zählt sie wie nebenbei mit, was sie sich im Geiste zurechtgelegt hat.
Jacquelines Finger fliegen ständig hin und her, sie greift und wirft, sie knotet und steckt Nadeln um. Und das mit allergrößter Leichtigkeit.
Jacqueline loves lace-making, she likes to work concentrated, to do her practised hand grips while she dwells on thoughts. And she has no pattern at which she could look, her fingers know what to do and seemingly as a sideline she keeps counting, what her mind has worked out before.
Jacquelines fingers keep flying around, she grasps, she throws, she knots and she replaces needles. All this with surprising ease.

Ihr Leben lang klöppelt sie nun bereits und natürlich bedauert sie, dass ihr Handwerk sich in eine nostalgische Attraktion ver­wandelt hat. Nachwuchs gibt es kaum. Weil aber einige Liebhaber das Klöppel­handwerk am Leben erhalten möchten, wurde Jacqueline schon hin und wieder eingeladen: sie war in Luxemburg, in der Schweiz, und sie war auch schon in Köln. Eine Woche lang hat sie vor Publikum geklöppelt und auch Unterricht gegeben.
Jacqueline makes laces for a lifetime, and of course she regrets, that her handicraft turned into a nostalgic attraction. There are only a few juniors. But some people try to keep up this handcraft, and so Jacqueline had the ability to get invited several times. She has been in Switzerland already, in Luxembourg and even in Cologne. For one week she was knipling in front of an audience and she trained some people, as well.

So gerne ich Jacqueline beim Klöppeln zugesehen habe; die Situation lässt mich auch beschämt zurück. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, dass (wie es für mein Empfinden oft in Reiseballungs­gebieten passiert) das Verhältnis zwischen Touristen und Einheimischen in eine denk­würdige Zoo-Schieflage geraten ist.
As much as I enjoyed watching Jacqueline, as much I feel ashamed, as well. I can’t avoid the impression, that (like quite often in high-tourism-areas) the relation of locals and tourists shows an imbalance, which makes me think of a zoo.

Nach Brügge wurde ich von Flandern Toursimus eingeladen, die freundlicherweise meinen Aufenthalt und die Anreise bezahlt haben. Vielen Dank dafür!

9 Comments

  • ZeitenSprung sagt:

    Jacqueline macht etwas für das Leute die Living History betreiben einen größeren Rahmen etwa ein Museum, besser noch ein Freilichtmuseum, brauchen.
    Nur das sie eine aussterbende Tradition noch aufrecht erhält. Quasi die Vergangenheit weiter lebt, statt neu aufnimmt.
    (übrigens kenne ich junge Leute, die das Klöppeln gerade wieder erlernen)
    Auch im Living History wird fotografiert, als sei man im Zoo. Ein Zustand an den ich mich auch nach Jahren noch nicht gewöhnt habe.

    Handarbeiten sämtlicher Art wird bestaunt, belächelt und leider oft für lächerlich gehalten.
    12€ für zwei Tage Arbeit. Das beschämt mich aber am Meisten.
    Die Einstellung die da hinter steht. Selbst einen guten Stundenlohn haben wollen, aber sich für die Preise für einen Haarschnitt ärgern, und die Klamotten aus Billiglohnländern beziehen.
    Meist sind die Menschen die meisten grinsen, die Menschen die am wenigsten hinterfragen.

    Respekt liebe Jacqueline, wenn Sie das lesen, für das was Sie täglich leisten !
    Sie zeigen das Gutes gekonnt sein will, und seine Zeit dauert.
    Herzlichen Dank dafür.

  • Nessie sagt:

    Mir geht es wie meiner Vorrednerin: 12 Euro fuer stundenlange Arbeit und echtes Kunsthandwerk – das ist beschaemend und traurig! Vom Verdienst her waere es bestimmt "lohnender", wenn Jacqueline Privatstunden geben wuerde. Ich bin sicher, es gaebe die Nachfrage.
    Und ich finde es auch befremdlich, Menschen zu fotografieren, ohne um ihr Einverstaendnis zu bitten.

    Danke fuer Deinen Bericht!

  • Kivi sagt:

    "das Verhältnis zwischen Touristen und Einheimischen in eine denk­würdige Zoo-Schieflage geraten ist"
    Ja, diesen Eindruck habe ich auch manchmal dort bekommen, auch wenn ich diese faszinierende Frau nicht gesehen habe.
    Ich bin ja eher unter Strassenkünstlern unterwegs, ebenso mein Freund, aber da ist es genauso. Es wird selten gefragt ob man fotografiert werden darf, die Meisten machen einfach. Man wird belächelt, von oben herunter angeschaut, und manchmal kommt man sich vor wie ein Tier im Zoo. Und das alles für einen "Lohn", der es nicht verdient hat so zu heißen, weil man kaum davon leben kann… Genauso ist es mit alter Handarbeit. Knausern was das Zeug hält…
    Sehr schade…

    Bei meinem nächsten Besuch werde ich bestimmt nach dieser faszinierenden Person einmal Ausschau halten, danke für deinen Bericht!

  • mo jour sagt:

    In Japan gibt es für Menschen, die ein traditionelles, vom Aussterben bedrohtes Handwerk so virtuos beherrschen, den Titel "Lebender Nationalschatz" oder etwas ausführlicher „Bewahrer eines wichtigen immateriellen Kulturgutes“ – samt Ehrensold, der ein Auskommen ermöglicht, um sich ganz der Kunst widmen zu können.
    Das würde ich mir für unsere europäischen alten Künste auch wünschen.
    Danke mal wieder für den lebendigen Bericht und die wunderbaren Fotos dazu. Und Danke an Jacqueline, dass sie sich hat fotografieren lassen und von sich erzählt hat!

  • smilla sagt:

    … was für eine schöne Sache! schlau, die Japaner

  • Anna sagt:

    "Schau-Sprechen" – ein wunderbares Wort! Schau-Kommentieren ist jetzt auch nicht so einfach… Soll heißen: mir fällt nicht so recht etwas ein, was Mitlesende möglicherweise lesenswert finden, aber die Geschichte ist einfach so schön und Jacqueline und Deine sie beschreibenden Worte so herzerwärmend, dass ich nicht nichts schreiben kann… So sag' ich einfach: Danke Euch beiden!

  • Oona sagt:

    Was für eine Kunst und Kunstfertigkeit. Wo gerade in den letzten Jahren der "Trend" wieder zum selbstgestalten, häkeln, nähen und stricken geht. Klöppeln ist da ganz sicher noch eine etwas …hm… speziellere Kunst.

    Manchmal, wenn ich im Urlaub wo bin, wo eben viele "Touristen" sind (einschließlich mir) fühle ich mich unwohl. Irgendwie neugierig und als Eindringling. Es hilft mir nicht wirklich, wenn mir klar wird, dass viele Touristen sehr oft zum Erhalt von etwas beitragen und Menschen auch dadurch Arbeit und Geld bekommen.
    Vielleicht liegt es auch an der Masse der reisenden Menschen. Z.B. Venedig.

    Neben dem Schönen, nach Vorne gezeigtem, gibt es oft das Elend, dass unsichtbar gemacht wird / gemacht werden muss.

    In meiner Stadt gibt es viele Touristen. Manchmal ist der Marktplatz brechendvoll. Ein Sprachenwirrwarr um mich herum. Es ist schön zu sehen was Menschen an "meiner" Stadt so sehenswert finden und es schärft das Bewußtsein, wo ich gerade so lang laufe. Manche Menschen kommen von weit, um die alten Straßen zu sehen. Das "Schnoor" ist schon süß und ich laufe da mal eben in der Mittagspause durch. Wenn mich Horden (entschuldige, aber so kommt es einer an schlechten vor) von Asiaten denn durch lassen. Klick!
    Gern spreche ich deutschsprechende Reisende an, wenn ich sehe wie die den Stadtplan hinundher drehen. Wenn ich helfen kann ein paar Informationen zu geben, dann freu ich mich.

    Danke für diesen Bericht über Jacqueline, liebe Smilla.
    Das Bild Nr. 2 finde ich besonders ansprechend.

    Grüße aus Bremen
    Oona

  • Anonym sagt:

    In Deutschland gibt es seid Sommer diesen Jahres eine Schule für das Handwerk Klöppeln und Barbara Corbet ist sehr interessiert, daß diese Handwerkskunst bestehen bleibt. Außerdem gibt es den Deutschen Klöppelverband, der sich auch um diese Handwerkskunst verdient gemacht hat. 2014 gibt es den Klöppelkongress in Hattingen, nicht so weit von Köln.

    Grüße aus Speyer

  • trulla sagt:

    Ich fürchte, ich verstehe die Skrupel einiger Kommentatoren nicht so recht: Jacqueline selbst stellt sich und ihre Kunst doch bewusst aus in ihrem Hauseingang und nicht im geschützten Privatbereich! Ebenso lebt doch ein Strassenkünstler von der Strasse. Soll man nun schauen und auch etwas in den Hut werfen? Oder etwa nicht? Ich selbst erfreue mich immer sehr an gezeigten Leistungen und gebe gern meinen Obolus. Und auch das touristische Fotografieren (anders als Smillas Werk) bedarf m.E. nicht der Nachfrage, wenn man sich selbst zum Teil der Strasse macht.
    Bei der Gelegenheit: meine Bewunderung gilt seit laengerer Zeit diesem Blog

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