Mann mit Tretroller

Vor mir auf dem Radweg fährt ein alter Mann mit einem Roller. Es ist ein kleines Gefährt, kein batteriebetriebener E-Scooter und auch kein moderner Kickscooter, es ist ein Tretroller mit kleinen Rädern, ohne Schnickschnack und englische Begriffe. Der Mann fährt langsam und bedächtig, mit einem Fuß tritt er sich vom Boden ab um Schwung zu holen, dann setzt er ihn zurück auf den Roller und gleitet leicht wackelnd voran.

Kurz vor der Ampel, an der wir beide stehen bleiben müssen, überhole ich ihn, ich bin neugierig sein Gesicht zu sehen. Der Mann scheint deutlich über 80 zu sein, sein Blick ist konzentriert, beide Hände fest am Lenker. Er trägt ein Wollkäppi mit Bommel obendrauf und eine helle, großkarierte Jacke. Die Hose ist braun mit Bügelfalte, sie ist ein bisschen weit, aber nicht zu lang, und sie sieht aus, als würde sie ihn schon seit einiger Zeit treu begleiten, eine Wohnhose. Am Lenker seines Rollers baumelt eine dünne durchsichtige Plastiktüte, wie man sie auf dem Markt am Gemüsestand bekommt, darin sind ein paar Habseligkeiten verstaut.

Ich biege an der Ampel in eine andere Richtung ab. Der Mann fährt weiter geradeaus, wackelnd rollert er bei grün los und überquert die vierspurige Straße.

Ein paar Minuten später treffe ich ihn an einer anderen Kreuzung wieder. Er steht mit seinem Roller auf dem Bürgersteig und sieht sich um, wirft einen langen Blick die Straße herunter und fährt dann in die entgegengesetzte Richtung davon. Beim weiterfahren  überlege ich, ob ich ihn hätte ansprechen sollen; vielleicht sucht er etwas, oder er hat sich womöglich verlaufen? Ach was, denke ich, es wird schon alles gut sein, was ich auch immer gleich denke, dass alle Welt hilflos ist, also wirklich, der kommt schon klar, der Mann. So rede ich mir zu.

Dann aber fällt mir die alte Frau ein, die ich vor Jahren nachts mal auf der Strasse gesehen habe; auch sie kam mir verloren vor, also habe ich sie angesprochen. Ich habe sie gefragt, ob es ihr gut geht. Dabei habe ich großen Abstand gehalten, damit sie keine Angst vor mir bekommt. Ihre Antwort war konfus und ich war alarmiert. Sie hatte nichts dabei, keine Tasche, keine dicke Jacke, obwohl es kalt war. Ich habe sie gefragt ob sie nach Hause findet, ob sie ihren Haustürschlüssel hat, ob ich ihr helfen kann. Mein Eindruck, dass etwas nicht stimmt wurde immer stärker, also habe ich bei der Polizei angerufen. Diese Frau wurde bereits gesucht; sie lebte in einem Pflegeheim am ganz und gar anderen Ende der Stadt, das hatte sie morgens verlassen, ohne dorthin zurück zu kehren.

Ich drehe also mit meinem Fahrrad um und suche den alten Mann auf seinem Roller. Ich muss ein bisschen herumkurven, aber dann sehe ich ihn auf dem Bürgersteig hinter Autos dahingleiten. Ich fahre zu ihm und spreche ihn an. Sein Blick ist hochkonzentriert auf den Gehweg gerichtet, seine Augen sind groß und dunkel und ernst.
Schließlich dringe ich doch zu ihm durch, und ich frage:
„Suchen sie etwas?“
„Ja“, sagt er, „ich suche immer etwas!“
„Was denn?“, frage ich.
Er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander und lacht dabei: „Na, Geld!“
Ich frage: „Soll ich Ihnen welches geben?“, und ich lache auch, dabei meine ich es natürlich ernst.
„Sie sahen so suchend aus, deswegen spreche ich Sie an“, sage ich noch.

Der Mann winkt freundlich ab und sagt: „Ich wohne hier“, und zeigt nach schräg links, wo ein Seniorenheim ist.
Wir verabschieden uns, schönen Tag noch, ja, Ihnen auch.
Was ich auch immer gleich denke, denke ich beim wegfahren.

Ich bin froh, den Mann angesprochen zu haben, besser so als anders herum.
Heute habe ich ihn besucht. An der Pforte habe ich nach dem Mann mit dem Tretroller gefragt.
Aber das ist eine eigene Geschichte.

09.10.2022

13 Comments

  • Anna sagt:

    Danke für diese Tretrollergeschichte! Dein Beschreiben Deines Ringens ums Ansprechen oder Nichtansprechen des alten Mannes und Dein Ansprechen selber imponiert mir – vielleicht, weil ich immer wieder damit konfrontiert bin, andere (meist fremde) Menschen ansprechen zu müssen, zum Beispiel um an nicht barrierefreien Punkten meines Weges weiterzukommen. Aber auch weil ich immer wieder mit (zumeist ebenfalls fremden) Menschen konfrontiert bin, die mich sehr freimütig ansprechen und mir fast sofort sehr persönliche Fragen stellen, die ich vielleicht noch nicht einmal sehr privat bekannten Menschen beantworten wollen würde – diesen weder privat noch sonstwie bekannten Menschen aber gleich gar nicht. Und auch weil ich wiederum anderen Menschen begegne, denen ich ihre Fragen geradezu an der Nasenspitze ansehe, die eben diese Fragen jedoch gar nicht stellen.

    Fragen über Fragen… Aus der einen wie aus der anderen wie aus wieder einer anderen Perspektive…

    Eine Frage hätte ich noch: Wird die Besuchsgeschichte hier demnächst auch noch erzählt? Darüber würde ich mich selbstverständlich sehr freuen!

    • Smilla sagt:

      Liebe Anna, da bin ich nun ehrlich gesagt auch neugierig, was das für Fragen sind, die du den Menschen an der Nasenspitze ansiehst. Und auch, was die Fremden Menschen so fragen. Aber vielleicht sind diese Fragen an sich schon so privat, also nicht nur die potentiellen Antworten, dass du sie gar nicht sagen möchtest. So stelle ich mir dass jedenfalls vor.
      Schön, dass du dennoch einen Sinn für meine Art hast, wo ich ja fremde Menschen auch einfach frage.
      Und ja, die Geschichte erzähle ich, so war der letzte Satz gemeint, aber ich glaube das hab ich gar nicht so verständlich formuliert.
      Liebe Grüße smilla

      • Anna sagt:

        Liebe Smilla,

        so „naseweiß“ wie gestern behauptet, bin ich sicher doch nicht: Natürlich kann ich nicht wirklich aufgrund von deren Nasen(spitzen) wissen, ob und wenn ja welche Fragen Menschen mir stellen wollen würden, und auch nicht, ob sie es tatsächlich deshalb nicht tun, weil sie sich nicht trauen. Vielleicht also ist alles nur mein Vorurteil? Möglich. Wenn ja, mögen mir die Vorverurteilten bitte verzeihen! Und doch gibt es irgendetwas ungreifbares Zwischenmenschliches, was mich manchmal sicher macht, dass da ungestellte Fragen sind. Was die tatsächlich gefragten Fragen der fremden Menschen angeht, so ist zum Beispiel sehr „beliebt“ die Frage danach, warum ich im Rolli sitze, oder ob ich mit meinem Rolli schlafe (äh, nein, weder so noch so…), oder ob ich eine Beziehung habe und wenn ja wie „das“ dann funktioniert. Schon „lustig“: oft bestehen noch immer Zweifel, dass Sexualität überhaupt funktionieren kann, zugleich scheint aber die Frage danach, ob ich eine Beziehung habe, ungeheuer spannend. Mir begegnet all das inzwischen immerhin weniger als früher. Vielleicht hat sich ja etwas zum Positiven verändert. Ich glaube, auf jeden Fall habe ICH mich verändert und gebe nicht mehr immer die Erklärbärin, sondern entscheide sehr genau, wann ich das will und wann auch nicht. Da kommt es auf jeden Fall sehr drauf an, WIE die Leute fragen. Ja, Du fragst die Leute auch „einfach“ – aber nie respektlos, scheint mir! Das macht glaube ich den Unterschied. Und auch wahr ist: Auch ich bin mitunter sehr neugierig auf Menschen! Das Bedürfnis, zu fragen und etwas zu erfahren, kenne ich also durchaus!

        Liebe Grüße – Anna

        • Smilla sagt:

          Liebe Anna, danke für diese ausführliche Antwort!
          Ich musste sie gerade erst mal aus dem Papierkorb fischen, denn ich hab aktuell eine solche Kommentarspamflut, dass ich den Filter mit neuen Worten bestückt habe. Offenbar ist irgendein Wortteil nicht durch den Filter gekommen.

          Das ist wirklich ein Thema für sich, fragen ja, aber wie. Und ob. Und wann. Und warum. Und was impliziert man mit der Frage. Was unterstellt man? Und welches Recht hat man überhaupt, also was lässt einen glauben man habe das Recht zu fragen? Und gleichzeitig beweglich bleiben. Im Kontakt, im Interesse, in der Selbstreflektion.
          Großes Thema.
          Liebe Grüße

  • Konzertheld sagt:

    Hey Smilla, ich habe mich sehr gefreut, als vor einer Weile dein Blog wieder in meinem Feedreader auftauchte. Ich habe noch gar nicht alle neuen Texte gelesen, zu kostbar kommen sie mir noch vor. Schön, dass du wieder Geschichten teilst. Und schön, dass der Mann deine Hilfe nicht brauchte, die Begegnung aber trotzdem nicht unangenehm war.

    • Smilla sagt:

      Lieber Konzertheld, ganz herzlichen Dank für deine schönen Worte! (Ich hoffe dann jetzt mal, dass du nicht enttäuscht sein wirst.)
      Ich versuche mich wieder warm zu schreiben, und ich bin darüber sehr froh, denn das hat mir seit langem sehr gefehlt, das schreiben. Sehr.
      Die Begegnung mit dem Mann war ganz und gar nicht unangenehm, und der Besuch bei ihm war sehr besonders. Darüber schreibe ich dann als nächstes.

  • Simona sagt:

    So ein Montagmorgenglück dein Blogpost. Ich hab keine Ahnung, was ein Kickscooter ist. Gleich mal das falsche Patenkind fragen.

    • Smilla sagt:

      Ein Kickscooter ist ein Tretroller, sagt man halt jetzt so. Aber die Antwort vom falschen Patenkind fände ich dennoch interessant!

  • Trulla sagt:

    Liebe Smilla, so eine Freude, Ihr Blog über den der verehrten Buddenbohms wiedergefunden zu haben. Ich hatte Ihre klugen, feinen und wertschätzenden Beobachtungen in Bild und Text bei „anders anziehen“ sehr vermisst.
    Auch ich beobachte gern, mache mir Gedanken, hätte Fragen, scheue mich aber, sie zu stellen aus Sorge um Indiskretion. Ich erfahre nur, was Menschen freiwillig erzählen (was viele ohnehin gern tun) und so bin ich überhaupt dazu gekommen, Blogs zu folgen. Mich als älteres Semester überraschte die „Freizügigkeit“, mit der manche Blogger sich über nahezu alle Lebensbereiche äußern, folge heute aber nur noch wenigen.
    Hier werde ich sehr gern wieder mitlesen. Sie verstehen es, mit Menschen so ins Gespräch zu kommen, dass diese echtes Interesse und die gute Absicht dahinter spüren.

  • Croco sagt:

    Vielen Dank für die schöne Geschichte.
    Es ist schon schwer, das Richtige zu tun, Sorge auszudrücken ohne jemandem zu nahe treten zu wollen. Aber fragen kann man immer.

  • Alissa sagt:

    Eine sehr schöne Geschichte;)

    Viele liebe Grüße

Schreibe einen Kommentar zu Croco Abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© Smilla Dankert 2019 | Impressum | Datenschutz