Wir schlendern gemeinsam die Strasse entlang; Herr M. möchte mir zeigen, wo seine Verwandten gelebt haben; der Bruder vom Vater und die Schwester, die schräg gegenüber ebenfalls Parterre wohnte: „Sie hat den ganzen Tag am Fenster verbracht, so rausgebeugt,“ erklärt Herr M. und macht mir vor, wie seine Tante sich aufs Fensterbrett gestützt hat.
Die Tante mochte er nicht: „Sie hat den ganzen Tag getuschelt, immer so …“ sagt Herr M. und macht ‚bsbsbsbs‘ dabei, und seine Finger führen am Mund eine wispernde Bewegung aus. Dem kleinen Robert hat das Angst gemacht, denn er fürchtete stets, es könne dabei um ihn gehen.
„Wir hatten immer Hunde,“ erzählt Herr M., und später, als er erwachsen war, hatte er auch immer einen Hund. Sein letzter Hund ist vor ein paar Jahren gestorben, das war ein schwerer Schlag für ihn. Einen neuen möchte er sich nicht zulegen, auch wenn er sich eigentlich kaum etwas mehr wünscht: „Ich bin jetzt 76. Wenn mir was passiert – das kann ja immer sein, oder wenn ich ins Krankenhaus muss – was wird dann mit dem Hund? In ein Heim geben? Das kann ich nicht.“ sagt er und schüttelt den Kopf.
Früher, wenn er etwas ausgefressen hatte, dann hat er sich manchmal im Zwinger versteckt: „Da konnte mir mein Vater dann keine Ohrfeige geben, wegen dem Hund, der sprang dann hoch,“ sagt Herr M. und amüsiert sich noch nachträglich über diesen Vorteil. Seinen Vater hat er sehr geliebt. Auch sein Tod war für Herrn M. ein großer Verlust.
Herr M. ist 1937 zur Welt gekommen, als der Krieg ausbrach war er zwei Jahre alt. Ja, die Kindheit in Kriegszeiten zu verbringen, und schließlich im Nachkriegsdeutschland aufzuwachsen, das habe ihn natürlich geprägt. Sein Kopf ist voller Erinnerungen, die ungeordnet auftauchen: „Wir waren nie im Bunker, wir waren immer im Keller, wenn Fliegeralarm war.“ erzählt er. „Dort hinten das Haus an der Ecke, das war das einzige, das noch stand am Ende, alle anderen waren zerbombt.“ Herr M. erklärt, wie die Strassenlaternen entzündet und wieder gelöscht wurden und wie er mit seinen Freunden Äpfel geklaut hat.
Eines Abends ist sein Vater verhaftet worden und nach Buchenwald ins KZ gekommen: „Er war Sozialdemokrat, mein Onkel war sogar Kommunist. Das war beides verboten.“ Herr M. läuft in Gedanken versunken weiter und plötzlich erzählt er mit lustigen Augen, wie er immer mit seinem Vater Fussball gespielt hat, hier mitten auf der Straße. „Es gab ja keine Autos wie heute, es war ja Platz,“ sagt Herr M. und kickt ein wenig in die Luft. Wenn Herr M. etwas trauriges erzählt, dann fügt er gerne kurz darauf eine fröhlichere Geschichte an.
„All diese Erinnerungen, die sind in mir, die gehen auch nie weg, die sind alle da.“ sagt Herr M., der seine Mittagspause gründlich überzogen hat. Zum Abschied möchte er mir unbedingt etwas schenken, und er kramt in seinen Taschen. Ich versichere ihm, dass seine Geschichte das größtmögliche Geschenk ist. Schließlich findet er zwei Kaugummis, und so wickeln wir die einträchtig aus ihrem Papier aus. Ich verspreche wiederzukommen und ihm die Fotos zu bringen. „Dann hole ich uns Käsekuchen!“ sagt er, „Aus der ältesten Bäckerei Kölns!“
Vielen Dank fürs Geschichtensammeln!
Toll! Mehr Worte wären nur Gequatsche…
Ganz liebe Grüße
Astrid
Die Bilder sind alle wunderschön. Die Fotos und die, die im Kopf entstehen.
Aber das unterste, wo er so verschmitzt guckt, gefällt mir am allerbesten.
Wunderschön!
Unbekannterweise herzliche Grüße an Herrn M., sein Wesen, wie Du es eingefangen hast, und seine Geschichten haben mich sehr berührt.
Lasst Euch den Käsekuchen schmecken!
Herzlich,
Stefanie
vielen Dank! Diese Geschichte, liebe Smilla, bwegt etwas in mir, sie macht mich etwas offener für Menschen. Ich neige manchmal dazu mich zu verschließen, leider.
LG Anne
Ich war richtig erleichtert, als ich las, dass sein Vater das KZ Buchenwald überlebt hat!
Danke, Herr M., und danke Smilla, für's Erzählen und für's Dokumentieren dieser berührenden (Lebens-)Geschichte!
Und ein gutes, gesundes 2014 Euch beiden und überhaupt auch allen Mitlesenden!
Ich komm mit!
Wieder eine wunderbare Geschichte, liebe Smilla!
Sie machen so besonders ausdrucksstarke Aufnahmen von den Porträtierten, dass ich mir vorstelle, diese würden sich selbst gern so sehen wollen. Und gewiss hat nicht jeder die Möglichkeit, ins Internet zu gehen.
Wie gehen Sie damit um?
Ach so. Ich vermuet, dass "Röb" soviel wie "Junge" heiß, oder?
Wie wunderbar, dass ihr in das Haus und in den Hinterhof konntet und mit dem Bildern im Äußeren und im Inneren die Geschichten hervorsprudelten.
Ja. Es ist wirklich ein Geschenk, wenn ältere Menschen uns teilhaben lassen an ihrem Leben. In guten wie in schlechten Zeiten.
Die Bilder sind sehr … hm… klar und schlicht. Das gefällt mir zu Deinem Text besonderst gut.
Grüße
Oona
Herr M. und seine Geschichte sind etwas sehr Besonderes. Danke!
Liebe Oona, nein, Röb ist wohl eher die Abkürzung von Robert. Ich habe allerdings nicht nachgefragt, weil ich irgendwie davon ausgegangen bin, ich hab nur gefragt, wie man es schreibt …
Vielen Dank! Im Falle von Herrn M. war es so: ich hatte ihn kürzlich auf der Strasse angesprochen, und ihm meine Karte gegeben, damit er im Internet gucken kann, wenn er möchte. Er hat auch die Möglichkeit, was ja, wie Sie sagen, nicht jeder hat, aber er hat dennoch gar nicht geguckt und trotzdem zugestimmt. Die Fotos schicke oder bringe ich in einem solchen Fall dann per Post oder persönlich. Wenn Enkel oder Kinder da sind, nutzen die Menschen manchmal diese Möglichkeit. Manchen ist es aber gar nicht so wichtig. Zum Beispiel habe ich letztes Jahr eine alte Dame fotografiert, die mich kürzlich sogar überraschend besucht hat. Sie wollte mir etwas zu Weihnachten schenken. Als sie bei mir war habe ich natürlich gefragt, ob sie denn schon mal im Internet den Eintag gesehen hat. hatte sie nicht, also habe ich ihn ihr gezeigt; sie war gar nicht sonderlich interessiert, viel wichtiger war ihr der Besuch. Tja, es ist also wie im Leben: immer anders.
Liebe Anna, dir auch ein frohes neues Jahr. ich habe dieses Jahr keinen 'Neues Jahr' Post geschrieben. dh. geschrieben schon, aber dann doch nicht veröffentlicht, weil mir das allgegenwärtige Gegrüße und Gewünsche irgendwie auf den Senkel gegangen ist und ich dann dachte, ich muss jetzt nicht auch noch …
Du willst doch nur den Käsekuchen, du Schnitzel.
♥.
Lieber einen Apfel. So wie den, den ich gerade auf dem Markt geschenkt bekam, weil die Marktfrau nicht wusste, was sie für so einen winzigen Apfel nehmen sollte.
Sehr gerne!
Danke für diese kleine Erinnerungsreise… Lieben Gruß Iris
Was für kleine Dinge Menschen lebenlang glücklich machen können : Das Wenden der Äpfel im Keller ! Welch kleine Freuden konnten andere neidisch machen: Brot mit selbst gemachter Butter … Wie schön ist es einen älteren Mann sagen lesen: " Ich war sein Augapfel ." Was für starke Persönlichkeiten gibt es , die nach Buchenwald mit ihren Söhnen kicken konnten….danke Ihnen Menschenflüsterin Smilla.
Wie wunderbar, eines solchen Vaters "Augapfel" gewesen zu sein! Nur so etwas macht stark für das Leben!
Schöne Geschichte über ein ganzes Leben! Danke.
Gänsehaut bei Norbert.
Liebe Smilla,
ich sitze hier, mit Tränen in den Augen!
Schon oft haben mich deine Bilder und geschichten ganz arg bewegt, aber diese ist so besonders, weil sie die meiner Eltern sein könnte, weli ich einiges aus den Erzählungen von meiner Mom kenne – wie sie in den Keller rannten, diese furchtbaren Sirenen und die Angst, es könnte die letzte Nacht, der letzte Tag gewesen sein.
Dazu noch die Erzählungen aus dem Buch "Dresden starb mit dir Johanna", an dem ich örtlich ja ganz eng verbandelt bin und schon sitzt einem das Herz in der Hose und kommt erst wieder hervor, als Herr M. erzählt, dass sich die Familie wieder zusammenfand.
Von einem solchen Mann zu lesen, wie er über seinen Vater spricht, das tut so gut, es wärmt das Herz auf ganz besondere Weise.
Ich danke Herrn M. und dir sehr für dieses wundervolle Porträt und die Erinnerung daran, dass Familie immer noch das Wichtigste im Leben ist!
Liebe Grüße
Katja
Wunderschön. Das letzte Bild passt so unglaublich wunderbar genau dahin wo es ist und wie es aussieht.
Eine wunderbare, bewegende Geschichte mit tollen Bildern. Merci!
Liebe Smilla,
das war wieder einmal eine Lebensgeschichte, die mir an einem grauen Samstagmorgen die Tränchen in die Augen trieb. Die Fotos sind so aussagekräftig und herzlich. Ich kenn solche Geschichten auch von meinen Eltern und Großeltern und bin dankbar, dass ich sie hören durfte. Das hat mein Leben doch entscheidend geprägt. Danke, auch für diese kleine Geschichte, die Liebe und Respekt zeigt.
Ich freue mich auf neue Menschen bei dir im Jahr 2014.
Alles Liebe
Claudia
Was für wundervolle Geschichten Du findest! Vielen Dank. Dein blog kenne ich erst seit heute, aber ich werde wohl öfter bei Dir vorbei"lesen"…
Ich lasse mich auch gern von wahren Geschichten inspirieren, wenn ich Erzählungen schreibe, aber Deine Photos runden Deine Porträts großartig ab.
Ich wünsche Dir im Neuen Jahr weiterhin viele schöne Begegnungen,
Andrea
Danke. Das war für mich eine sehr berührende Geschichte. Und wunderbare, einfühlsame Fotos dazu.
wie imme, liebe smilla, eine wunderbar anrührende menschen*geschichte und das beste? das letzte foto!! herrlich!
liebe grüße, dornrös*chen♥
Ich mußte auch schon wieder weinen…Es bleiben so viele Geschichten eines Lebens unerzählt, weil niemand zuhört.
Viele ältere Menschen zeigen diese anrührende Würde und in sich versunkene Anmut, die man auch bei kleinen Kindern häufig findet.
Irgendwie hängt diese Geschichte auch mit der letzten zusammen. oder?
Eine berührend schöne Geschichte, wie alle deine Geschichten…Lu
Großartig!
Wunderschöne Geschichte mit tollen Fotos, vielen Dank! Habe heute erst deinen Blog entdeckt, ich werde regelmässige Besucherin! Meine Diplomarbeit schrieb ich über Zufriedenheit im Alter. Dazu machte ich Interviews und Portraits von zwölf alten Menschen. Du hast mich grad in diese längst vergangene Zeit zurückversetzt.
Herzlichen Dank!!!
Sabine aus der Schweiz
Oh, das klingt ja interessant; kann man die Portraits irgendwo lesen? Und was machst du denn heute so? lg smilla
Ich möchte mich gerne mal bei allen bedanken für die vielen netten Kommentare! Das macht Mut und Lust weiter zu machen, vielen Dank!!
Nein, die kann man nur in meiner Diplomarbeit lesen.
Heute arbeite ich in einem Wohnheim für psychisch behinderte Menschen und Obdachlosenhaus. Sehr spannende Leute, die Dir sicher auch gefallen würde. Da gäbe es das eine oder andere hochspannende Portrait. Also falls Du mal in der Nähe von Basel bist…. kannst Du Dich gerne melden. Würde mich freuen!
Lieber Gruss und alles Gute
Sabine
mensch, lange nicht mehr da gewesen. ist jetzt sogar noch schöner dein blog. gute grüße, to von zzzeitkritik.
Danke! Ja, mach unbedingt weiter!
Liebe Sabine, wie finde ich dich denn im Falle…? schreib doch mal foto(ät)smilla-dankert.de, ich würd mich freuen, lg Smilla
danke mito! es ist ein bisschen stiller geworden hier, aber ich mache unverdrossen weiter 🙂
Ein sehr schöner Text, ich lese dein Blog schon einige Jahre und besonders mag ich, dass du oft über ältere Menschen schreibst, die "im Internet" sonst eher selten vorkommen. Frag' den netten Herrn doch bitte, wenn du ihn zum Käsekuchen-Essen wiedertriffst, ob er während des Krieges nicht vielleicht eher in Neumarkt in der "Ober"pfalz war und welche Erinnerungen er daran hat. Danke und liebe Grüße aus der Oberpfalz.
DANKE !!
Auf das letzte Foto habe ich die ganze Geschichte lang gewartet.. dachte gleich, dass er bestimmt auch sehr verschmitzt gucken kann. =) =) =) =)