Einatmen, Ausatmen, Atempause

Elf Katzen hatte Josefs Mutter: „Züffchen, Lottchen, Gräuchen, Pummelchen, Stinkerdoris“, rattert er die Namen runter und bricht dann ab, „alle habe ich sie nicht mehr im Kopf.“
Geliebt habe seine Mutter die Katzen; mehr als ihre Kinder. „Sie wollte eigentlich gar keine Kinder, sie wollte lieber nur die Katzen.“

Josef ist vier Jahre alt, als der zweite Weltkrieg ausbricht. Er erlebt eine Kindheit, in der Bombenalarm, Bombenhagel und Bunker zum Alltag gehören: „Wir waren ja mehr im Keller und im Bunker als anderswo, Tag und Nacht. Tagsüber kamen die englischen Flugzeuge und nachts die amerikanischen, und immer Bomben, Bomben, Bomben. Und wir gingen immer in den Keller oder in den Bunker, um uns zu schützen. Dadurch sind wir auch am Leben geblieben.“

Mit seinem Bruder kommt er im Zuge der erweiterten Kinderlandverschickung nach Ostdeutschland, wo sie bei einer Familie untergebracht werden. Seine beiden Schwestern sind irgendwo in einem Heim; Josef kann sich nicht erinnern wo, und auch nicht, wann er sie wiedergesehen hat.

Er selbst und sein Bruder werden nach Kriegsende zur Mutter zurückgebracht. Sein Vater ist im Krieg in Russland gestorben.
„Als mein Großvater uns bei meiner Mutter abgegeben hat, mich und meinen Bruder, da hat er gesagt: ‚Luise, ich bring dir hier ding zwei Bälch‘ – deine zwei Kinder“, übersetzt er sicherheitshalber den kölschen Satz, „Da sagte sie: ‚Du lieber Gott, das kann ja heiter werden!‘ Wir wurden nicht in den Arm genommen, ein Küsschen oder so, das gab es da nicht, sie hatte ja die Katzen.“

Josef erzählt ohne Groll, ohne Gram, ohne Bitterkeit, hie und da tupft er sogar ein leises Lachen an das Ende eines Satzes.
„Das Leben ist kein Kindergarten“, sagt er, „und im Krieg – da kommt nicht so viel Freude auf.“

Als Josef knapp vierzehn Jahre alt ist, verlässt er die Schule und arbeitet in einer Steinzeugröhrenfabrik im Akkord. Das Geld, das er verdient, gibt er an die Mutter ab, und er ist sicher, dass gut die Hälfte davon für die Katzen drauf ging.

Mit achtzehn mietet er sich ein eigenes Zimmer; er ist nun Hilfsarbeiter bei einem Energiekonzern: „Ich hatte ja keinen Beruf gelernt. Aber es gibt da ja viele Tätigkeiten in so großen Werken.“
In dieser Zeit – es sind die frühen 50er Jahre – stößt er auf ein Gesundheitsmagazin: „Das war von so einem Niederländer, der hatte die ganze Welt bereist. Der war auch bei den Hunza im Himalaya. Das ist ein Volk, da werden die Menschen älter als sonstwo auf der Welt.“ Dem Mythos nach liegt das an der guten Gebirgsluft und einer speziellen Ernährungsweise.

„Etwas Totes kann kein Leben hervorbringen“, so schreibt der Niederländer, und für den achtzehnjährigen Josef macht das Sinn. Er ernährt sich fortan vegetarisch: „Kein Fleisch, kein Fisch, kein Huhn, kein Ei. Ich wollte nicht, dass Tiere für mich sterben müssen.“ Josef isst viel Rohkost, er macht Yoga, er meditiert, und er wendet eine Atemtechnik der Hunza an, wie der Niederländer sie weitergibt: Einatmen, Ausatmen, Atempause. „Auf die Pause kommt es an“, sagt Josef, „die ist wichtig.“
All das hat ihn in seinem Leben immer begleitet.

Ob er das alles richtig gemacht hat, weiß er nicht: „Ich hatte ja keinen Lehrer.“ Josef hat einfach immer dieses Gesundheitsmagazin gelesen und versucht, davon ein bisschen was zu lernen:
„Die Hunza achten die Natur, sie leben mit ihr und nicht gegen sie“, sagt Josef. „Das Höchste ist vom Niedrigsten abhängig, kann ohne es nicht existieren. Das ist die große universelle Ordnung, und die darf man nicht stören“, davon ist Josef überzeugt.
Er untermalt seine Sätze mit den Händen, formt das Universum, findet Gesten für kleines und großes, für Einheit und Verbindung. Er sucht nach den richtigen Worten, und er nimmt sich Zeit beim Überlegen.
„Wer die Natur achtet, das Niedrigste und das Höchste und die große universelle Ordnung, der fängt auch keinen Krieg an“, sagt Josef und guckt mir fest in die Augen.

 

Irgendwann im letzten Jahr hatte Josef einen Unfall mit dem Fahrrad. Er ist auf einer Bananenschale ausgerutscht und gestürzt, hat sich den Kopf angeschlagen und war bewusstlos. Nach dem Unfall lag er eine Weile im Krankenhaus, und er musste anschließend einiges neu lernen; Gehen zum Beispiel und auch, sich zu erinnern. Das mit dem Gehen klappt inzwischen wieder gut, mit dem Erinnern ist es schon schwieriger. „Voriges Jahr hab ich es noch gewusst“, sagt er zwischendurch immer wieder beim erzählen.
In seine Wohnung konnte er nicht zurück, er lebt nun in einem Pflegeheim.

Josef ist gern an der frischen Luft: „Ich wollte da drüben in diesen schönen Park, der war mir fußgängerisch aber zu weit. Da habe ich mir den ersten Roller gekauft; für 89 Euro, da in dem großen Fahrradgeschäft.“ Mit diesem Roller ist er irgendwann zur Post gefahren, um einen Brief aufzugeben. Als er wieder rauskam, war der Roller weg. Geklaut.
Niemand hatte etwas gesehen, nicht die drei Männer vor der Tür, nicht die Frau am Fenster in der Post.
Josef ist wieder in den Fahrradladen gegangen und hat von dem Diebstahl erzählt: „Ich habe die Quittung gezeigt und gesagt, dass ich wieder so einen Roller brauche wie den alten, mit dem bin ich gut zurecht gekommen, aber dass ich nur 60 Euro habe. Und da ist der Verkäufer nach hinten zur Chefin, und ich hab schon gesehen, dass sie nickt.“
Josef hat den gleichen Roller für seine 60 Euro bekommen, und den lässt er nirgends mehr draußen stehen. „Den geb ich gar nicht aus der Hand. Egal wo ich hingehe, den behalte ich bei mir.“

15.10.2022

14 Comments

  • Rebekka sagt:

    Ich liebe deine Texte und die Menschen, die du entdeckst bzw. die sich dir zeigen und die durch deine Art zu berichten lebendig und echt und schön sind. Danke, Smilla!

  • Trulla sagt:

    Wenn ich Josefs feines Gesicht anschaue und hier lesen kann, was für schöne Gedanken sich in seinem Kopf verbergen, dann berührt mich das tief. Keine Bitternis über verpasste Chancen, zu wenig Mutterliebe, zu wenig von vielem? Er scheint ein in sich ruhender Mensch zu sein und es ist eine Freude, dass hier bei Ihnen seine Persönlichkeit die Würdigung findet, die sie verdient.
    Und wie wunderbar, dass er mit dem Tretrollerwunsch gehört und verstanden wurde von guten Menschen.
    Diese Geschichte hat meinen Tag verschönt, danke dafür.

    • Smilla sagt:

      Danke, liebe Trulla, dein Kommentar freut mich!
      Und ja, diese Rollergeschichte, die rührt mich wirklich auch, ich will immer in diesen Laden gehen und danke sagen!

  • Simona sagt:

    Was für ein feiner Mensch, der Herr Josef.
    Und an die Hunza kann ich mich noch gut aus meinem Fasten-Buch erinnern.
    Mein erster Gedanke war auch: Wo ist der Laden, da muss man mal hingehen und herzlichen Dank sagen.
    So schön war das. Danke Dir.

    • Smilla sagt:

      Jetzt wo du es auch schreibst; ich glaube ich werde mal vorbeigehen in den zwei Läden, die da in Frage kommen.

  • Anna sagt:

    Wäre es doch möglich, Augen, Ohren und Herzen aller Kriegführenden dieser Welt für Josefs von Dir wieder einmal bemerkenswert wiedergegebene Worte, Geschichte, Botschaft offen zu machen!

    Danke, Josef, fürs SoSein, fürs Smilla-davon-erzählen und für die Erlaubnis, dass Smilla uns davon erzählen darf – danke Smilla, fürs Zuhören, Bebildern, Aufschreiben und Teilen!

    • Smilla sagt:

      Liebe Anna, danke, ich werde Josef das vorlesen, wenn ich ihm die Fotos bringe, überhaupt alle reaktionen, das wird ihn sicher sehr freuen.
      Die Fotos zu bringen habe ich am Samstag schon versucht, aber da war er mit seinem Roller unterwegs 🙂

  • mo jour sagt:

    deine aufmerksame Liebe zu den Menschen
    deine Neugier, die niemals bloßstellt
    deine Vertrauen weckende Art, die den Menschen erlaubt, sich dir und deiner Kamera zu öffnen
    … alles das
    und noch viel mehr!
    nach jeder deiner Geschichten fühle ich mich reich beschenkt, immer wieder, all diese Jahre.
    1000Dank!

    1000Dank auch an den Herrn mit dem Roller – auch er und seine Geschichte ein Geschenk, das mich sehr versöhnlich stimmt und sehr demütig macht.
    Grüße!

    • Smilla sagt:

      Liebe mo jour, ich bin ein wenig sprachlos, vielen Dank für deine schönen Worte!
      Und schön, dich hier zu wissen.
      Liebe Grüße, smilla

  • Ines sagt:

    Was für ein schönes Portrait. Wenn alle Menschen so in sich ruhen würden, wäre die Welt eine bessere.

  • Birgit Schaefer sagt:

    Was für eine wundervolle Geschichte, so lebendig geschrieben, meine Gedanken gehen mit auf die Reise.
    Vielen Dank ❣️?

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