Drei Generationen Haus

In einer schmalen, steilen Strasse im Istanbuler Stadtteil Cihangir steht Elas Geburtshaus. Nicht nur sie, auch ihre drei Schwestern – die älteste ist 38, die jüngste 17 – sind hier zur Welt gekommen.
Ela, die ich im Café ihres Großvaters Cemal kennengelernt habe, hat mich eingeladen, sie in ihr Haus zu begleiten: „Wir leben dort alle zusammen, meine Eltern, meine Großeltern, ich und meine jüngste Schwester.“ Ela ist (ich schrieb es schon) von leiser, aber überbordender Herzlichkeit. Wie könnte ich ihr Angebot ausschlagen.

Also machen wir uns gemeinsam auf den Weg vom Café – wo bis auf den Vater und Elas Schwester gerade die familiäre Hausgemeinschaft versammelt ist – und schlendern die kurvige Strasse bergab in Richtung Haus. Unterwegs zeigt Ela mal hierhin, mal dorthin; im oberen Teil der Strasse steht ein opulenter Neubau mit großen Panoramafenstern. Dort wohnt, so erfahre ich, ein berühmter Schauspieler einer beliebten Seifenoper. Ela kennt auch den Preis seiner Wohnung, denn der stand in der Zeitung; irgendeine Zahl mit Million hintendran, sehr teuer jedenfalls. Ein paar Meter weiter kürzt eine steile Treppe für Fußgänger den Weg nach oben ab. Die Stufen sind voll besetzt, überall sitzen grüppchenweise junge Leute zusammen. Es ist Freitag Abend, es ist warm, die Sonne geht gerade unter, und der Bosporus glitzert Weite und Geborgenheit zugleich in den nahenden Abend hinaus.

An der nächsten Biegung zeige ich auf einen bunten Strauss Peperoni, die am Fenster eines hübschen, gut erhaltenen Holzhauses zum trocknen draußen hängen. Neben dem Haus steht eine Palme. Bereits letztes Jahr habe ich hier ein Foto gemacht, auch damals hingen Pepperoni und Kräuter am Fenster. Ela freut sich – hier wohnt ihre Freundin.

Ela kennt das Viertel, an jedem Haus fällt ihr eine Geschichte ein. Und wo kein Haus mehr steht, sondern nur noch eine bröckelige Mauer, stand früher mal eins, wo sie mit ihren Freunden gespielt hat.
Ela ist 23. In dieser Strasse, in diesem Viertel ist sie groß geworden. Wir erreichen das Haus ihrer Großeltern, ihrer Eltern, ihr Haus. „Da oben ist mein Fenster,“ sagt Ela und zeigt in den zweiten Stock. Dann erklärt sie mir alle anderen Fenster, während ich die Eingangstür suche. Die Tür ist aus Metall und schief in eine schiefe Mauer eingelassen. Alles hier ist schief, kaum sind wir in dem kleinen Innenhof, wo mich eine der sechs oder sieben Hauskatzen begrüßt, geht es schief weiter. Als ich selbst ein Kind war, wurde ich in einem markanten Moment meines Lebens mit dem Phänomen ‚windschief‘ bekannt gemacht. Hier, in Elas Haus, befinde ich mich nun in einer Art Zentrale des windschiefen.
Ela führt mich durch den Hof zur Haustür, aus der soeben ihr jüngere Schwester tritt. Sie verhält sich beruhigend jugendlich. Mit Ela wechselt sie mimikfrei nur die nötigsten genuschelten Worte, mich ignoriert sie weitgehend. Während sie ihre Turnschuhe anzieht, lese ich auf ihrem T-Shirt: Don’t kill my Vibe.

Ela bewegt sich mit mit liebender Selbstverständlichkeit durch das Haus, in dem sie schon immer lebt und mit dem sie auf eigene Art verschmolzen zu sein scheint. Wenn sie mir etwas erklärt, dann damit ich das Haus verstehe, damit auch ich mich im Haus auskenne, mich darin bewegen kann. Ela präsentiert nicht, sie lädt ein. Sie teilt. So unspektakulär kann Gastfreundschaft daherkommen, und so ohne Zweifel.

Weiter gehts, bitte hier entlang …

Im ersten Stock des Hauses, in seiner Mitte, befindet sich die quadratische Küche. Darin steht ein Tisch mit Stühlen, ein Sofa mit Tisch, eine Spüle, ein Ofen. Der Kühlschrank lehnt schief in einer Nische. Hinter einer der vielen Türen, die von der Küche abgehen, muss eine Speisekammer sein. Gleich neben der Küche befindet sich das Wohnzimmer. Dort stehen sich zwei Sofas im wortlosen Dialog gegenüber. Ela sagt, dass es hier keinen Fernseher gibt, weil hier ja geredet wird. Irgendwo muss es einen Raum geben, in dem der Fernseher steht, aber den scheint Ela nicht so wichtig zu finden. Im hinteren Teil des Hauses haben die Großeltern ihr Zimmer. Von der Küche führt eine Treppe nach oben ins Schlafzimmer der Eltern. Ein schmuckloses Doppelbett mit gemustertem Überwurf steht rechts an der Wand. Es liegen keine Kissen darauf. Ich versuche zu raten, in welcher Richtung die Eltern wohl liegen. Neben dem Doppelbett steht ein Etagenbett aus Metall. „Da schlafen meine Schwester und ich im Winter,“ sagt Ela. Natürlich gibt es im Haus keine Heizung. Der Ofen in der Küche wärmt gerade noch ein wenig das Schlafzimmer der Eltern. Im Zimmer daneben, das Ela sich mit ihrer Schwester teilt, ist es nachts im Winter zu kalt.

Ela studiert Chemie an der Marmara-Universität. Sie träumt davon, einen eigenen Seifenladen zu haben. Schon jetzt konzentriert sie sich ganz aufs Seife machen. Sie kramt eine Tüte hervor und zeigt mir ein paar handgemachte Stücke. Ihren Seifenladen möchte sie gerne in Istanbul eröffnen, aber vorher möchte sie gerne nach Amerika gehen. New York, das wäre was. Englisch lernen, weiter studieren. Ob das klappen wird weiß sie nicht. Aber sie hofft es einfach und während sie das sagt, lächelt sie mit einer Mischung aus Bescheidenheit, Zuversicht und Entschlossenheit, dass ich in diesem kleinen Zimmer mit den eng gestellten Betten doch alles für möglich halte.

Dass sich Ela das Zimmer mit ihrer Schwester teilt ist für sie nichts besonderes. Ich sage, dass es in Deutschland sehr ungewöhnlich wäre, in ihrem Alter noch kein eigenes Zimmer zu haben, oder überhaupt zuhause zu wohnen. Ela nickt, sie weiß das: „Aber in der Türkei ist es anders. Die Familie ist sehr wichtig.“ Dabei macht sie mit ihren Händen eine Bewegung, als würde sie einen lockeren Schneeball formen. Mir fällt ein, wie Ela ihre Großmutter vorhin am Cafe zur Begrüßung umarmt und geküsst hat, als sie mit Gehstock und am Arm von Elas Mutter dort ankam.
Ich frage Ela, wie es wäre, wenn sie einen Freund hätte. Und halte inne, vielleicht hat sie ja einen? Ich entschuldige mich für meine indiskrete Neugier, frage aber weiter: ob eine Ehe für sie arrangiert werden würde, oder ob sie frei sei in dieser Frage. Ich fühle mich hinterwäldlerisch. Aber Ela nimmt meine Fragen ernst und antwortet auf alles, und nein, keine arrangierte Ehe steht ihr bevor.


Als ich Ela erzähle, dass ich Cemals Café durch meine Freundin Simone entdeckt habe, legt sie ihren Namen aus Seifenbuchstaben und gibt mir hocherfreut alles als Geschenk mit.


Das Café von Elas Großvater Cemal wurde sogar mal in der GEO vorgestellt, mit ein paar anderen Cafés: „Aber sie haben seinen Namen falsch geschrieben!“ sagt Ela

Irgendwann kommt Elas Mutter nach Hause. Wir gehen in die Küche, die Mutter setzt sich aufs Sofa und klopft auf den Platz neben sich. Also setze ich mich dorthin. Dann springt sie wieder auf und holt einen Teller Weintrauben herbei, den sie vor mich stellt. Sie lädt mich ein, später mit ihnen zu essen.
Ich bedanke mich, schüttele aber den Kopf und versuche zu erklären, dass ich noch packen und die Wohnung aufräumen muss, weil ich ja morgen früh abreise. Ich fühle mich schlecht: einerseits ich habe ich Sorge, sie mit meinem Nein zu kränken, andererseits möchte ich so gerne noch ein bisschen Zeit für meinen ganz eigenen Istanbul-Abschied haben. Aber sie nickt, und ich muss versprechen, dass ich sie besuche, wenn ich wieder da bin.

Ela begleitet mich nach draussen. Diesmal bin ich diejenige, die im Hof ihre Turnschuhe anzieht. Auf meinem inneren T-Shirt steht: Thank you for the wonderful vibe.

10 Comments

  • Erica Sta sagt:

    Ja, das kann ich jetzt auch erwidern: Thank you for this wonderful Post. Lebendig, einfühlsam, bunt und unterhaltend führte der Weg durch die Straßen, die Wohnung und vornehmlich durch eine schöne Gastfreundschaft, alltägliche kleine Gesten, nette Begegnungen…

    Mit sonnigen Grüßen, Heidrun

  • lisa kötter sagt:

    schön, Bilder und Text. Der Gast ist Gott sagt man dort. Und meint es.
    Lieben Lisagruß!

  • Sponatan fällt mir eine Textpassage von Niedecken ein: "Guck mal wie die hier zu uns sind, und wie wir die in Köln ansehen…" (frei übersetzt, weil kölsch so blöd zu schreiben ist)

    Danke für den Post !

  • Anna sagt:

    Das Warten hat sich wieder einmal definitiv gelohnt – danke für diese wiederum herzenswarme Fortbeschreibung und Fortbebilderung Deiner Begegnung(en), die in Cemals Cafe ihren Anfang nahm(en)!

  • Ich komme gerade über die Zeitschrift We love living (Spezial) hier her, dort wurde Dein Blog empfohlen, und ich fand die Beschreibung so interessant, dass ich gleich mal nachsehen musste.
    Hier bleibe ich, hier gefällt es mir!
    Viele liebe Grüße,
    Kerstin

  • ste sagt:

    ich mag auch diesen zweiten Teil 😉 Ja, ich denke, wie Anna, das Warten hat sich gelohnt!!

  • Anonym sagt:

    ich würde am liebsten jeden tag einen post von dir lesen!
    sooo herzerwärmend, sooo einfühlsam die texte!
    so geschmackvoll die fotos!
    danke danke danke fürs teilen!!!

    und wenn nicht jeden tag – vllt klappts ja einmal die woche? 😉
    waldwanderer

  • Anonym sagt:

    Sehr schön geschrieben und gut wahrgenommen. Schaue gern mehr.
    LG schurrmurr

  • Oona sagt:

    Moin Smilla,
    es ist so erfreulich etwas Neues auf Deinem Blog zu lesen.
    Diese Bilder, die so ganz eine "Smilla-Handschrift" tragen.
    Grüße an Dich
    Oona

  • Sonja sagt:

    ich liebe Deine Portraits. So viel Wahrnehmung, so viel Wertschätzung. Wunderbar.

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