Discover the „I“ in GIRL

 

Manche Erlebnisse haben ein langes Echo. Oder anders formuliert, sie hinterlassen einen bleibenden Abdruck auf der inneren Landkarte des eigenen Lebens. Im Laufe der Jahre sammeln sich mehr und mehr solcher, manchmal sehr deutlicher Abdrücke, denen oftmals starke Eindrücke vorangegangen sind. Und manchmal verbinden und verweben sich diese Abdrücke miteinander, möglicherweise weil sie durch Erfahrungen ganz gegensätzlicher Art entstanden sind. Sodass etwas Neues aus ihnen erwächst: eine Idee vielleicht, ein Verständnis oder der Wunsch, die erlebten Gegensätzlichkeiten nicht reglos hinzu­nehmen, auch wenn sie nicht aufzulösen sind.

Auf Sonjas innerer Landkarte ist ein solch deutlicher Abdruck vor gut 15 Jahren entstanden. Da war sie zum ersten Mal in Indien, um ihre Schwester zu besuchen, die mit behinderten Kindern im Süden des Landes gearbeitet hat. Wie viele Menschen, die aus westlichen Ländern das erste Mal nach Indien reisen, war auch Sonja zunächst überfordert: von den Umständen in denen die meisten Inder leben, vom indischen Alltag, von den hygienischen Gegebenheiten, von Indien an sich. Es war keine Liebe auf den ersten Blick.
Besonders erschüttert hat Sonja die Situation der Kinder, die sie durch die Arbeit ihrer Schwester kennengelernt hat. In deprimierend armen Verhältnissen wurden diese Kinder unterrichtet. Aber nicht etwa in einer Schule, sondern in einem Hospiz, Tür an Tür mit Menschen, die an Lepra erkrankt waren und dem Tod entgegensahen.

Ein anderer deutlicher Abdruck auf der eigenen inneren Landkarte, der gegensätzlicher kaum sein könnte, ist die Geburt von Sonjas erster Tochter vor 12 Jahren.
Einige Jahre später hat Sonja ein weiteres Kind zur Welt gebracht und vor 3 Jahren hat sie ihr drittes Kind bekommen. Für ihre drei Kinder empfindet Sonja eine tiefe Liebe. Aber sie empfindet auch eine tiefe Dankbarkeit; dafür, dass alle gesund sind, dass es allen gut geht, dass sie in Sicherheit leben und aufwachsen können.
„Natürlich könnte ich mich jetzt einfach hier hinsetzen und mich freuen, meinen Kindern zusehen und alles wäre schön“, sagt Sonja. Aber genau das kann sie nicht. Sie kann es nicht, weil da noch der andere Abdruck ist; das Wissen um die Ungleichheit, die Erinnerung an die Armut und Hoffnungslosigkeit von Kindern in anderen Teilen der Welt. Ihr Glück, sagt Sonja, möchte sie gern teilen, sie möchte etwas davon zurückgeben.

Und so hat sich in Sonja eine Idee den Weg gebahnt; zunächst noch vage und schließlich immer konkreter. Seit gut zwei Jahren arbeitet sie nun an ihrem persönlichen Projekt, das ein so klares wie scheinbar schlichtes Ziel hat: Geben. „Time to give“ ist ihr Motto; Give love, give happiness, give peace – so lauten die Stickereien auf den Halstüchern, die Sonja für ihr selbst kreiertes Label cobblestonekids entworfen hat. Die Erlöse ihres Projektes gehen an das St. Catherines Waisenheim nach Mumbai in Indien, deswegen die Entscheidung für die englische Sprache.

Fünf Zeilen, in so knappen Worten kann man Sonjas Projekt, das nun langsam das Licht der Öffentlichkeit erblickt, beschreiben. Wie viel Akribie, Leidenschaft, Ehrgeiz und Eifer dieses ambitionierte Unternehmen erfordert – das zu beschreiben, würde deutlich mehr Zeilen erfordern, und es bliebe doch nur eine Annäherung.

Auf die Idee, dass es Tücher sein sollen, durch deren Verkauf sie Geldspenden sammeln kann, ist sie durch einen banalen Zufall gekommen: Sie wollte gerne ein Tuch für sich selbst in den Farben Rot und Pink. So einfach kann es manchmal sein; irgendwann, nach ergebnisloser Suche, dachte Sonja, warum nicht selbst so ein Tuch produzieren? Warum nicht ganz viele solcher Tücher produzieren und den Gewinn dann spenden?
Wie das Muster aussehen sollte war ihr schnell klar: stilisierte Pflastersteine in unterschiedlichen Farbkombinationen sollten es sein, als Symbol für den Weg in ein etwas besseres Leben, den sie Kindern damit ebnen will.

Ein Umstand muss an dieser Stelle erwähnt werden: mit den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern kannte Sonja sich als dreifache Mutter aus, als sie ihr Projekt „cobblestonekids“ begonnen hat.
Mit den Herausforderungen, die die Produktion von Tüchern mit sich bringt, kannte sie sich keineswegs aus.

Sonja ist Flugbegleiterin, ein Beruf, den sie mit Begeisterung und Herzblut ausübt und der sich nicht nebenbei abhandeln lässt. Sie fliegt fast ausschließlich Langstreckenflüge. Das bedeutet lange Schichten, Zeitverschiebung die müde macht, viele Begegnungen mit Menschen während der Arbeit und ein leeres Hotelzimmer danach.
Drei Kinder und dieser Beruf sind eigentlich schon Anforderung genug, könnte man meinen.

Ein textiles Produkt auf die Bahn zu bringen, das obendrein fair und in Indien produziert sein soll, hat Sonja vor neue Anforderungen der unterschiedlichsten Art gestellt.
Sie musste sich mit Material, Design und Produktionsabläufen auseinandersetzen, steuerrechtliche Fragen klären, Einfuhrbestimmungen und Zollwesen verstehen lernen, Vertriebswege anbahnen und aufbauen, ein Logo entwickeln und viele Dinge mehr.
Allem voran aber musste sie in Indien zwei wichtige Plätze finden: einen Ort, an dem sie die Tücher produzieren lassen konnte und wollte, und sie musste ein Waisenheim finden, dem der Erlös zugutekommen soll.

Monatelang hat Sonja ihren Flugplan nach Möglichkeit auf Indien konzentriert. Da Mumbai dabei meist ihr Zielflughafen war, stand recht schnell fest, dass sie dort suchen würde. Also hat sie nach einem anstrengenden Flug die kurze Zeit zwischen Ankunft und Abflug genutzt, um sich vor Ort Waisenheime und Kleinfabriken anzusehen. Über zehn verschiedene Waisenheime hat sie schließlich besucht, einige mehr hat sie zuvor im Netz recherchiert. So ein Besuch muss vorbereitet und angekündigt sein, beide Seiten wollen sich kennenlernen, Vereinbarungen über eine mögliche Zusammenarbeit müssen besprochen werden. Nie ist Sonja mit leeren Händen zu einem Besuch gegangen, sie hat immer Süßigkeiten oder Spielzeug für die Kinder dabeigehabt.

Sonja hat sich ein möglichst genaues Bild von der Arbeit des jeweiligen Heimes gemacht, sie hat kritisch beobachtet, wie mit den Kindern umgegangen wird, welche Ziele dabei formuliert und umgesetzt werden, und natürlich hat sie darauf geachtet, wofür Geld benötigt wird und was die Heimleitung damit anfangen würde. „Einmal hat der Direktor eines Heimes gesagt, dass er einen neuen Kühlschrank für sein Büro braucht“, sagt Sonja und inzwischen kann sie sogar darüber lachen, wenn auch immer noch kopfschüttelnd.

Als Sonja das St. Catherine’s Home zum ersten Mal besucht hat, hatte sie direkt ein gutes Gefühl. Und dieses Gefühl ist bei den folgenden Besuchen geblieben.
Circa vierhundert Schützlinge versorgt das Heim, es sind fast überwiegend Mädchen, die jüngsten im Säuglingsalter. Aber auch Jugendliche und junge, unverheiratete Mütter, die sozial ausgestoßen und stigmatisiert sind, leben dort. Manche sind Waisen, viele Mädchen waren sexueller Gewalt ausgesetzt, es sind HIV infizierte Mädchen dabei und auch ausgesetzte Säuglinge. Sie sind nach Altersstufen in unterschiedlichen Häusern untergebracht. Das Heim legt großen Wert darauf, die Mädchen zur Eigenständigkeit zu befähigen und zu ermutigen. Da Mädchen und Frauen in der indischen Gesellschaft eine stark untergeordnete Rolle spielen und viel Geringschätzung ertragen müssen, ist die Stärkung des Selbsbewusstseins ein klar definiertes Ziel: „Discover the „I“ in GIRL“ lautet das Motto des Heimes.

Vor kurzem sind die ersten Tücher aus Indien eingetroffen. Eine weitere Produktlinie, leichte Kinderschals aus Jersey, wurden in Deutschland gefertigt. Eine gute Freundin, die Grafikerin ist, hat das Logo für die cobblestonekids entwickelt und zusammen mit Sonja die Muster und Farben der Tücher ausgearbeitet und diskutiert. Sonja hat eine Facebookseite eingerichtet, über die man auch zum Shop gelangt, eine befreundete Fotografin hat dafür Fotos der Tücher angefertigt, und sie konnte Freunde und Kollegen dafür gewinnen für das Projekt zu modeln.
Nachdem Sonja in den vergangenen zwei Jahren enorm viel Zeit und Kraft in die unermüdliche Entwicklung ihrer Idee gesteckt hat, freut sie sich nun, dass sie langsam damit vor die Tür kann. „Es tut so gut, endlich Ergebnisse in den Händen zu halten, endlich zu sehen, dass es vorangeht.“ Die Arbeit daran hat sie manchmal müde, manchmal mürbe werden lassen. Immer wieder gab es Rückschläge, unerwartete Schwierigkeiten und frustrierende Momente der Stagnation. Aufzugeben kam für Sonja nicht in Frage, zu sehr ist sie von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugt.

Sonjas Ziel, das St Catherines Home mit Geld zu unterstützen, und dabei gleichzeitig die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, nimmt Gestalt an.
Vielleicht gelingt es ihr, mit diesem Projekt einen weiteren, einen eigenen Abdruck zu hinterlassen; auf der inneren Landkarte anderer Menschen.

Hier findet sich ein von Sonja verfasster Text mit weiteren Infos über ihr Projekt „cobblestonekids“.

 

13.02.2014

4 Comments

  • julischka sagt:

    Liebe Smilla,
    danke für diesen beeindruckenden und informativen Artikel.
    Ich bewundere Menschen, die ihr Anliegen in die Tat umsetzen.
    Und ich freue mich über Sonjas Entscheidung, ein Kinderheim, dass auf die Bedürfnisse von Mädchen und Frauen in Indien eingeht, zu unterstützen.
    Ihren Shop werde ich mir auf jeden Fall merken udn die Info weitergeben. Wer andere unterstütz, sollte bei seinem Vorhaben selbst Unterstützung erfahren.
    Viele Grüße,
    Julischka

  • Oona sagt:

    Ich bin schwer beeindruckt. Ziehe vor Sonja tief meinen imaginären Hut!
    Danke für die vielen Informationen.
    Ein Tuch wird bestellt und eine Idee, wie ich bei mir ein wenig sparen um es weiterzugeben, ist mir auch eingefallen. Dabei springt auch noch was für mich bei raus. Ich werde dünner… *lach*
    Grüße
    Oona

  • marie burn sagt:

    Ein toller Bericht über eine tolle Frau, wie mir scheint 😉
    Ich kann nur hoffen, dass mir auch einst eine schöne und so umsetzenswerte Idee über den Weg läuft und ich bereitwillig darüber stolpere!

  • Anna sagt:

    Zugegebenermaßen habe ich mich heute Mittag über einen abgelehnten Pflegegeldantrag aufgeregt und in den letzten knapp zwei Wochen über den einen oder anderen dummen bis dreisten Arztkommentar. Ganz bewusst habe ich aber auch Rückmeldung gegeben über das viele Gute, was ich in der Klinik auf medizinischer und auch menschlicher Ebene erlebt habe! Und habe mich dann gefreut, als ich mehrmals wiederum positive Rückmeldungen bezüglich meiner "Art, Patientin zu sein" bekommen habe. Und spätestens wenn ich von Sonja, von Indien und von Sonjas Tun lese, weiß ich wieder, welch ein Luxus es ist, einen Klinikaufenthalt (und ungezählte zuvor) finanziert bekommen zu haben, gegen einen abgelehnten Pflegegeldantrag Widerspruch einlegen zu können, wenn auch lange als Einzelkämpferin, so doch integrativ beschult worden zu sein, eine Erwerbsminderungsrente zu beziehen… die Kette dieser Luxusmöglichkeiten ließe sich sicher noch weiterführen, wenn ich weiter darüber nachdenke!

    Viel Erfolg weiterhin, Sonja!

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