Die Achte

 

Als ich Mrs. Buchanan das erste Mal sehe, bin ich mir fast sicher, dass sie zu einer Reisegruppe gehört, deren Schluß sie und ein jüngerer Mann bilden. Sie sieht so grund­sätzlich zufrieden aus, dass ich sie gar zu gerne angesprochen hätte. Eine gan­ze Weile später begegne ich ihr an einer anderen Stelle wieder, und ich ahne, dass ich mich mit der Reisegruppe geirrt habe. Der jüngere Mann ist ihr Sohn: er ist 58 Jahre alt. „Und ich bin 88!“  erzählt Mrs. Buchanan vergnügt und nicht ohne Stolz. Dann stellt sie mir ausdrücklich ihren Sohn vor, der Musiker ist und sich – so mein deutlicher Eindruck – der Liebe seiner Mutter gewiss sein kann.
Fast rüde erscheint es mir, als ich versuche ihr zu sagen, was der Sohn längst bemerkt hat: dass ich eigentlich gern mehr über sie selbst erfahren möchte.
Wir gehen gemeinsam ein Stück weg von der lauten Strasse und nun erzählt Mrs. Buchanan, dass sie noch einen Sohn hat, der ebenfalls Musiker ist: „Und eine Toch­ter, die ist Künstlerin, sie malt.“

Ich sage zu Mrs. Buchanan, dass sie auf mich einen äußerst wachen und positiv ge­stimmten Eindruck macht: „Ja?“ antwortet sie und überlegt: „Ja … ich nehme viel wahr und ich beobachte gerne. Gerade habe ich im Bus neben einer Japanerin ge­sessen, die mit ihren beiden kleinen Kin­dern gereist ist. Ich habe sie zwei Stunden lang miterlebt und fand es interessant zu sehen, wie sie mit ihren Kindern umgeht. Ob sie anders ist, als eine westliche Mutter. Ich konnte ihre Sprache nicht ver­stehen, aber ich konnte sehen, wie sie miteinander in Beziehung sind.“ Das alles erzählt Mrs. Buchanan so besonnen, als würde sie die Begegnung mit geschärften Sinnen gerade noch einmal nachempfin­den.

Mrs. Buchanan lebt in der Nähe von Glasgow. Nachdem ihre drei Kinder halb­wegs groß waren hat sie mit 40 begonnen zu studieren: „Dann habe ich als Lehrerin gearbeitet. In der Grundschule“.
Ihren eigenen  Kindern hat sie stets ver­sucht die Kunst nahezubringen und sie darin zu fördern, das war ihr wichtig.

In den wenigen Minuten, die ich mit Mrs. Buchanan verbringe, erfahre ich ein paar bewegende Meilensteine ihres Lebens. “Wie waren zuhause acht Kinder. Ich bin die Jüngste. Und ich dachte immer, dass das etwas besonderes ist“ sagt sie und lacht. Schon früh hat sie vier ihrer Ge­schwister verloren, innerhalb weniger Jahre: “Es gab keine Antibiotika wie heute, bei einigen Krankheiten hatte man da keine Chance.“ Ihr Lieblingsbruder ist mit 19 im Krieg gefallen: „Das war der größte Verlust.“ Auch ihre Eltern sind früh verstorben und ich frage Mrs. Buchanan, wie es ihr an­gesichts all dieser Erlebnisse gelungen ist, so positiv in die Welt zu blicken. „Ach, ich denke, man muss dem Beachtung schenken, was man hat und was gut ist.“ Mrs. Buchanan freut sich zum Beispiel über ihr Alter: “Ich bin die Einzige in unserer Familie, die so alt geworden ist, ich bin die Achte und habe die Achtzig geschafft. Ich fühle mich priviligiert.“

 

18 Comments

  • Anna sagt:

    Sofort habe ich versucht, herauszufinden, was Mrs. Buchanan auf dem zweiten Bild in der Hand hält. Aber ich glaube, es ist nur ein Prospekt?? Wenn's ein Buch wäre, hätte ich mich aus aktuellem Anlass gleich gefragt, was Mrs. Buchanan liest. Wie auch immer: das Prospekt, das Tuch, das Grün, vor dem sie steht: passt perfekt!

    Viel wichtiger aber ist, dass Mrs. Buchanans Haltung mich sehr beeindruckt! Obwohl ich nicht einmal einen Bruchteil davon selbst erlebt habe, kann ich diesem Gefühl, privilegiert zu sein, sofort zustimmen! Auch mich würde es aus Gründen fehlender Antibiotika und fehlender anderer medizinischer Möglichkeiten längst nicht mehr geben, wäre ich in eine andere Zeit oder zwar in die gleiche Zeit, aber in ein anderes Land hinein geboren worden! Und selbst unter hiesigen und heutigen Bedingungen kenne/kannte ich Menschen wie mich, die nicht so viel Glück hatten; zwei davon sind zum Beispiel schon nicht mehr da… – Leider gelingt mir das längst nicht immer so konsequent wie Mrs. Buchanan, aber in mir gibt es auch den tiefen Wunsch, auf diese Tatsachen nicht (nur) mit Verzweiflung zu "antworten", sondern (wo immer mir möglich) mit Dankbarkeit dafür, dass ich lebe und das ich so leben kann und darf wie ich lebe!

  • christine sagt:

    Eine tolle Frau hast du wieder kennengelernt.Es ist so schön das du uns teilnehmen lässt.
    Das Buch von Anna ist gestern angekommen, ich freue mich sehr aufs Lesen.
    einen schönen Sonntag noch wünscht

    Christine

  • Liisa sagt:

    „Ach, ich denke, man muss dem Beachtung schenken, was man hat und was gut ist.“

    Die Essenz eines Lebens und dieses Artikels. Gerade wir Deutschen neigen ja oft dazu die Beachtung eher auf das was fehlt und das was nicht gut ist, zu legen. Es ist ein Lernprozess, das zu verändern und das was man hat und was gut ist nicht als selbstverständlich hinzunehmen sondern dankbar anzunehmen und damit zu wuchern. Und das hat nichts damit zu tun, dass man was fehlt und was nicht gut ist, verleugnen würde. Man erlaubt diesen Dingen nur nicht, das bestimmende Element seines Lebens zu werden.

    Danke wieder mal!

  • Nessie sagt:

    Eine tolle Frau und wieder ein toller Bericht.
    Liebe Gruesse von Deiner ebenfalls in Schottland lebenden
    Leserin!

  • Liebe smilla,

    vor einigen Tagen habe ich zufällig diesen Blog entdeckt. Seit dem habe ich nun fast alle Portraits gelesen. So viele Geschenke!

    Deine Fähigkeit, die Menschen in Wort und Bild dermaßen schön darzustellen, bzw. ihre spezielle Schönheit zu zeigen, finde ich sehr berührend!

    Dein spezieller Blick auf und in die Menschen ist im wahrsten Sinne des Wortes WIRKlich prima und für den eigenen Alltagsgebrauch nachahmenswürdig.

    Herzlichen Dank!

    lieben Gruß in meine Heimatstadt
    :-)))

  • smilla sagt:

    Liebe Brigitta, ganz herzlichen dank für diese schönen Worte! Ich freue mich sehr darüber! Da hast du ja ganz schön viel gelesen die letzten Tage, wow…
    Köln ist also deine Heimatstadt, wo magst du jetzt wohl leben?
    beste Grüße jedenfalls, smila

  • smilla sagt:

    Ich glaube ich möchte gerne bald mal nach Schottland, ich war noch nie dort. Wo lebst du denn? Ich würde ja gerne nach Applecross, wo Ruaridh lebt, den ich in Köln traf, vielleicht fahre ich nach Glasgow…? Eine kleine Blogrundreise… das wäre doch eine Idee.

  • smilla sagt:

    Liisa, das hast du schön formuliert: „Man erlaubt diesen Dingen nur nicht, das bestimmende Element seines Lebens zu werden“
    Sehr wahr, wie ich meine.

  • smilla sagt:

    Ich verstehe was du meinst, unf wenn ich mir vorstelle ich wäre in einer ähnlichen Lage, dann kann ich die gedanken, oder Gefühle, auch wirklich nachvollziehen. Wenn man nicht in dieser Lage ist, dann hat das Wort priveligiert irgendwie, weit hinten und nicht leicht zu greifen, auch ein bisschen was makabres. Ich weiss nicht, wie ich das erklären soll, ich überlege schon, seit dem ich Mrs. Buchanan traf und dann wieder seit deinem Kommentar.
    Keine Ahnung woran das liegt, ob ich da 'christlichen Moralvorstellungen' unterliege, oder ob da was dran ist, an dem makabren. ich bin noch zu keinem Schluß gekommen, es fällt mir bislang lediglich auf. Ich denk drüber nach.

  • jubil sagt:

    Liebe Smilla, alles in Schottland lohnt, es ist das wunderwunderschönste Land. Glasgow, Edinburgh, die Küste, die Lochs… Ach, ach, ich käm ins Schwärmen!

    Und auch von mir mal wieder lieben Dank für diesen und alle anderen Beiträge. Ich bewundere deine Art, die richtigen Fragen stellen zu können, um den Menschen ihre schönen, eigenen Weisheiten zu entlocken. Und deinen Mut, dir wildfremde Menschen zu erobern.

  • Glücklicherweise mittlerweile wieder sehr, sehr nah … ich lebe nun (nach einer 20jährigen Abstinenz) in so einer Art Vorort von Köln … der Zug bringt mich mithilfe meiner Monatskarte in ner halben Stunde an den Dom … :-)))

    noch ein herzlicher Gruß :-)))

    PS: Düren isses …

  • Anonym sagt:

    Wie klasse finde ich, dass hier nicht nur junge Menschen gezeigt und beschrieben werden…Macht richtig Laune…
    "Das Alter ist ein Massaker"- meinte mal jemand- doch hier ganz und gar nicht!

  • Anna sagt:

    Liebe Smilla, meine ersten spontanen, vagen Überlegungen zu Deinem Hinweis auf das "Makabere": Könnte es sein, dass Du das Wort "privilegiert" als makaber erlebst, weil es sich für Dich so liest/anhört als würde ich oder Mrs. Buchanan meinen, "kein Recht" auf dieses Glück zu haben, bisher am leben geblieben zu sein? Oder ist es im Gegenteil eher so, dass sich mit dem Begriff "privilegiert" für Dich die Vorstellung verbindet, es gäbe da eine Art "eigenes Verdienst", was man erst erbringen müsste, um dann eben "privilegiert" zu sein? Falls etwas davon an Dein eigenes Empfinden anknüpft – beides meine ich so nicht!!! Völlig abwegig ist die Vorstellung eines "eigenen Verdienstes": Was sollte ich anderes, "Besseres" gemacht haben als N. und A. (die es nicht geschafft haben)? Nichts! Das ist genauso wie die berühmt-berüchtigte Frage: "Warum ich?", die ich mir nie ernsthaft gestellt habe, weil für mich immer die indirekte Frage daneben stand: "Warum – statt mir – nicht jemand anders?" Wer bin ich, mir das Recht auf solch eine Frage herauszunehmen!? Andererseits ist es eben auch nicht so, dass ich permanent ein "schlechtes Gewissen" oder Ähnliches habe, weil ich meine, "kein Recht" darauf zu haben, bisher überlebt zu haben. Nach dem jeweils ersten Schock über N.'s und A.'s Tod entstand damals eher so ein "Jetzt erst recht (das Leben genießen)!"-Gefühl in mir, was jedes Mal, wenn ich drüber nachdenke und vielleicht – so wie gerade – davon erzähle, noch heute, ca. 4 und 6 Jahre später, noch sehr spürbar ist! Es ist nur einfach so, dass ich keine Erklärung dafür habe, warum ich in dieses Land, in diese Zeit hineingeboren worden bin und jemand anders nicht oder warum ich bisher am Leben geblieben bin, während N. und A. schon nicht mehr da sind. Und wohl gerade weil ich das nicht erklären kann, ist mir so wichtig, was Liisa so treffend gesagt hat: "… das was man hat und was gut ist nicht als selbstverständlich hinzunehmen sondern dankbar anzunehmen und damit zu wuchern." Und sehr richtig finde auch ich ihren abschließenden Gedanken: "Und das hat nichts damit zu tun, dass man was fehlt und was nicht gut ist, verleugnen würde. Man erlaubt diesen Dingen nur nicht, das bestimmende Element seines Lebens zu werden."

    Oh, oh, nun habe ich mich aber sehr ausgebreitet, hier… Hoffe, ich habe Deine eigenen Gedanken nicht völlig platt geschrieben…!

    Wenn Du erlaubst, stelle ich an dieser Stelle mal zwei imaginäre Kerzen für N. und A. auf!

    Mit ganzem Herzen –

    Anna

  • smilla sagt:

    Anna; nein, das sind beides nicht die Richtungen… es geht wohl mehr um die, die „es nicht geschafft“ haben. da finde ich den Gedanken irgendwie makaber, vielleicht ist aber auch makaber gar nicht das richtige Wort, es ist eher so, dass ich denke, wie soll ich es sagen… denen also quasi ein 'privilegiert' hinterherzurufen… das beschwert mein Herz, ich weiss nicht, wie ich es besser sagen soll.
    Trotzdem habe ich den Eindruck, dass ich Mrs. Buchanan und auch dich verstehen kann; ich hab auch genügend Vertrauen an das Beste eurer Sichtweise zu glauben.
    Weisst du, mir tun auch die, die nicht gewinnen immer so leid. Egal ob beim Fussbal oder bei irgendwelchen anderen Meisterschaften. Das ist so eine spezielle Eigenheit von mir. Mir tun auch die Nudeln, die im Abfluss landen leid. Ernsthaft. Das klingt vielleicht sogar noch lustig, aber mir ist es in dem Moment ernster als man meinen sollte und denke immer, mir fehlt da irgendein Spiel-Gen, das es mir ermöglichen würde, manches etwas robuster aufzunehmen.

  • Oona sagt:

    Frauen wie Mrs. Buchanan sind wirklich eine besonders inspirierende "Vorhut". Die Achte mit 88 Jahren. Zu Fuß unterwegs in Köln.
    Vielleicht spricht mich das so an, weil meine Großmutter 6 Geschwister hatte und sie ebenfalls die Letzte der Familie war. Sie wurde 88 Jahre. Eine Frau mit klarem Geist bis zum Schluß.

    Mit 40 hat Mrs. Buchanan noch einen neuen Beruf erlernt. Das stimmt mich froh und zuversichtlich.

    Mir gefällt ihre leichte Sommerbluse. Wie sich die Zeiten wandeln. Was trugen unsere Großmütter? Was tragen manchen Menschen schon mit 60 dieses "seniorenbeige" mit dem Hang zur Einfallslosigkeit.

    Grüße
    Oona

  • Anna sagt:

    Heute nicht Grießbrei, sondern Gemüsesuppe mit Grießklößchen – wollte ich nur mal kurz sagen… Smilla, vielleicht weißt Du noch, was das heißt; 4 Jahre!!! 🙂

    Ich sinniere immer noch über "privilegiert" und "makaber" oder ein anderes Wort, was das ausdrücken würde, was ich meine, ohne dabei vielleicht makaber o. ä. zu wirken…

    Hoffe, es geht Dir gut und Du arbeitest "einfach" nur viel!?

    Beste Grüße –

    Anna

  • Sichtbar sagt:

    Ich war schon viel zu lange nicht mehr auf deinem Blog, die Leute mit ihren kleinen Geschichten sind immer wieder interessant zu lesen. 🙂

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  • Alice sagt:

    Liebe Smilla,
    ich binimmer wieder überrascht, wie interessiert ältere Menschen sein können. Frau Buchanan hätte allen Grund, sich nur mit sich und den unglücklichen Seiten ihres Lebens zu beschäftigen. Aber sie geht immer noch mit offenen Augen durchs Leben und interessiert sich für fremde Mitmenschen und die Unterschiede zwischen den Kulturen.
    Ist es die Zeit, nachzudenken, die uns selbst meistens fehlt?
    Ich hoffe, dass ich in ihrem Alter auch so interessiert und weise bin.
    Liebe Grüße,
    Alice

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