Aennie auf der Bank

 

„Als ich zwei Jahre alt war habe ich laufen gelernt, und als ich zehn Jahre alt war musste ich es noch mal lernen.“ Das er­zählt mir Aennie als ich schon eine Weile neben ihr auf der Bank sitze und sie nach ihrem Alter frage. „Ich bin 67, aber ich bin damals krank geworden.“ Sie nennt den Namen ihrer Krankheit, und weil ich nicht verstehe ergänzt sie : „Die Muskeln …“ Beim reden fliegt immer eine ihrer Hände bedächtig hin und her und erzählt so wort­los die Ge­schichte eines Lebens mit der Krankheit. Mit klugen Augen sieht Aennie mich an; offenbar hat sie mein Erstaunen gespürt, denn ehrlich gesagt habe ich sie tatsächlich älter geschätzt.

Aennie lächelt mir so freundlich zu als ich an ihr vorbeigehe, dass ich stehenbleibe und frage ob sie in Brügge lebt. „Nein, in Heist.“ antwortet sie. Das ist ein kleiner Ort am Meer, ganz in der Nähe.
Gerade eben war sie in einem Harfen­kon­zert, von dem sie in der Zeitung ge­lesen hat: „Es ist hier ganz in der Nähe, Luc Vanlaere,“ sagt sie und hält mir einen Flyer hin: „Er spielt gleich noch mal“ sagt sie und rät mir hinzugehen. „Es ist umsonst und er spielt so wunderschön … sehr be­ruhigend.“

Aennie hat auffallend schöne Hände mit langen, kräftig-zarten Fingern, und ich frage sie, ob sie selbst Musik macht. Aber ich liege falsch: früher hatte sie ein kleines Restaurant: „Peperloock. Es war ein teures Restaurant!“ sagt sie mit gesenkter Stimme und gehobenen Augenbrauen. Sie hat dort selbst gekocht. „Aber eines Tages habe ich mich scheiden lassen und zur selben Zeit habe ich das Restaurant auf­gegeben.“ Das war 1988, seitdem lebt Aennie allein und sie sagt: „Ich lebe gern! Manchmal habe ich einen schlechten Tag, dann bleibe ich zuhause. Wenn ich einen guten Tag habe, dann gehe ich raus.“ Und wieder segeln ihre Hände durch die Luft.

„Da kommt meine Freundin, sie holt mich wieder ab,“ sagt Aennie und steht er­staunlich behende auf. Sie fragt, ob ich noch ein Foto im Stehen machen möchte und geht dann mit ge­beugtem Rücken davon. Ich sehe ihr nach, und sie dreht sich noch einmal zu mir um und ruft: „Sagen Sie dem Mann an der Harfe viele Grüße von der alten Frau die seine CD gekauft hat!“

Also besuche auch ich das Harfenkonzert von Luc Vanlaere und natürlich richte ich ihm die Grüße aus.

So ganz beruhigend wie auf Aennie wirkte die Musik auf mich allerdings nicht. Das mag zum einen daran liegen dass die Harfe kein Instrument ist, dass mich schnell erreicht oder berührt. Zum anderen aber habe ich mich während des Konzertes immerzu gefragt, warum Menschen es nicht schaffen, dem Musiker immerhin soviel Respekt entgegenzubringen, dass sie we­nigstens während einer halben Stunde ihre Gedanken für sich zu behalten imstande sind und nicht unmittelbar ihrem Sitznach­barn zuwispern müssen. (… echt ey …)

Es sei erwähnt, dass ich vom Tourismusbüro Flandern für 6 Tage eingeladen wurde, zu tun, was ich am liebsten mache: herum­laufen und Menschen ansprechen. Und weil ich gerne langsam reise habe ich mir selbst noch 2 Tage dazugeschenkt. Und ich kann nur sagen: es war schön, interessant, er­hellend und was man sich alles so wün­schen kann. Aber dazu später mehr.

 

10 Comments

  • Anonym sagt:

    Liebe Smilla – immer wieder DANKE für die herzerwärmenden Kommentare über interessante Menschen, die zu entdecken, es des "besonderen" Blicks für die Zeitgenossen und -innen bedarf! 1001 Dank also dafür, auch in Brügge dabei gewesen sein zu dürfen – am Meer und sonstwo!
    Grüße aus München von der Stubenhockerin Heike!

  • Liisa sagt:

    Im ersten Bild springt Aennie ja auch ein bisschen der Schalk aus den Augen. 🙂 Schönes Portrait wieder!

    Toll, die Einladung vom Tourismusbüro Flandern! Auf sowas warte ich ja schon seit Ewigkeiten. Ich hätte da auch einige favorisierte Städte! ;o)

  • Anna sagt:

    Ich höre sie nicht oft, aber wenn ich Harfenmusik höre, erreicht sie mich wohl ähnlich schnell wie Aennie. Dies haben wir also nicht gemeinsam, Smilla. Sehr wohl gemeinsam haben wir die Wahrnehmung von Aennies Händen: Gerade dachte ich beim Betrachten des zweiten Bildes noch: "Wie schön ihre Hände sind!" – und freute mich, als ich kurz vor dem dritten Bild las, dass Du genau denselben Eindruck hattest!! Überhaupt ist Aennie eine sehr schöne Frau, finde ich!

  • smilla sagt:

    Anna, ja Aennie ist sehr schön und leider habe ich kein Foto von ihrem schönen Lächeln, dass ich während unseres Gesprächs so oft sehen konnte. ich bin ein bisschen böse mit mir deswegen!
    Tja, und was die Harfe angeht; das Konzert war wirklich schön, wenn ich das so objektiv beurteile; Luc Vanlaere hatte da mindestens 5 Harfen auf der Bühne und ein metallenes Instrument, das aussah wie eine Mischung aus Mini-Ufo und Riesenpistazie. Hab ich noch nie gesehen. Aber irgendwie macht mich die Harfe immer misstrauisch; das ist mir alles zu lieblich irgendwie… so hat man seine Bilder …

    Liisa, du hattest doch neulich geschrieben, ob nicht immerzu Magazine bei mir anfragen für Portraits. Das ist ja nicht der Fall. Deswegen habe ich mich gefreut als (passenderweise an meinem Geburtstag) die Anfrage bzw. Einladung kam. Für mich war allerdings wichtig, dass ich alles genauso machen kann ich wie ich möchte, wenn ich nach Brügge und Oostende fahre; ich wollte auf keinen Fall "Programm". So konnte ich ganz meinen Impulsen folgen und hatte immer genug Zeit, wenn mein Gegenüber auch Zeit hatte.

    Heike; danke dir! 🙂 ich bin übrigens auch gerade eine Stubenhockerin und sichte meine Fotos und schreibe … ich habe so viele Geschichten aus Belgien mitgebracht.

  • Anna sagt:

    "…metallenes Instrument, das aussah wie eine Mischung aus Mini-Ufo und Riesenpistazie." War das Instrument vielleicht zufällig eine Hang – siehe hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Hang_(Musikinstrument) ? Wenn ja: die find' ich auch toll, seitdem ich hier in Bielefeld mal eine Straßenmusikerin damit zuerst gehört, dann gesehen und dann auch angesprochen(!) habe!

    Und sei Dir nicht böse wegen des Lächelns! Aennies Persönlichkeit wird auch so gut sichtbar, glaube ich! Übrigens hätte auch ich sie älter geschätzt…

  • smilla sagt:

    Ja, genau, eine Hang! das ist ja ein hochmodernes Instrument, wie ich da lese. Erst 13 jahre alt … danke dir!!! Link: Hang Instrument

  • Anna sagt:

    Wow, da komm' ich viel weniger rum als Du und hatte dennoch mal eine neue Info für Dich! Das freut mich, ehrlich gesagt!

    Habe gerade gesehen, dass es im Wikipedia-Artikel "DAS Hang" heißt, aber die Musikerin damals sagte "DIE Hang"; vielleicht so ähnlich wie mit "der oder das Blog"… Und DER Hang gibt's ja auch noch. 😉

  • Sally sagt:

    Oh wie ich solche Gesichter liebe, so viel kann man in ihren Augen sehen…

  • Oona sagt:

    Ja. Krankheit und Schmerz machen einen Körper über die Jahre alt.
    Es ist eine Kunst dabei den Geist ruhig und klar zu halten, um die schönen Momente im Leben zu erkennen und wertzuschätzen!

  • Kivi sagt:

    Oh, den Harfenspieler kenne ich 🙂 Hab allerdings noch nie ein Konzert von ihm gesehen, aber die Flyer und Plakate. Und mein Freund kennt ihn auch, da wir Beide auch Hangspieler sind.
    Gerade habe ich vier Wochen mit meinem Freund verbracht, der in Brügge wohnt. Wir sind zwar auch viel herumgereist, allerdings haben wir auch einige Tage in seiner Heimatstadt verbracht. Da ich ihn nun ganz arg vermisse finde ich es umso schöner daß du auch gerade dort warst und Fotos zeigst. Da kommen Erinnerungen hoch 🙂

    Dankeschön!!

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