Tango oder Tatort

 

Sonntagabends gegen acht leeren sich auch im Zentrum von Brügge die Straßen, und es kehrt so etwas wie Beschaulichkeit ein.
Viele Wochenendbesucher mögen sich be­reits auf dem Heimweg befinden, die da­gebliebenen Touristen, die zuvor in Scha­ren das Bild der Altstadt mitgestaltet ha­ben sind mutmaßlich überwiegend in den Restaurants untergekommen, und die Ein­heimischen, ja, die Einheimischen meiden den historischen Stadtkern ohnehin nach Möglichkeit, wie mir wiederholt berichtet wurde.
Auch ich bin Touristin, auch mich treibt der Hunger, da fällt mir ein, dass Deutschland gerade Tatort guckt. Oder Traumschiff. Ach nein, TV Duell. Und während sich derlei nichtige Gedanken den Platz in mei­nem unterzuckerten Hirn mit solchen an Essen und belgisches Bier teilen, weht von Ferne Musik an mein Ohr.

Am Fischmarkt ist Tango. Und der wirkt nun doch sehr einheimisch. Ich zögere mich in die Menge hinein; meine Kamera weist mich als Fremde aus, und ich möchte nicht stören. Auf der anderen Seite möchte ich gerne fotografieren. Ein Zwiespalt, der mich immer wieder aufs Neue heraus­fordert. Schließlich setze ich mich an den Rand des eigens ausgelegten Tanzbodens und lausche der argentinischen Musik.
Tanzende Paare kreisen versunken und mit würdevoller Ernsthaftigkeit an mir vorüber, und ich bin berührt. So sehr, dass ich fast ein bisschen weinen möchte.

Bereits im fünften Jahr veranstaltet die hiesige Tango-Schule im Juli und August sonntagabends die Milonga del Pescador. Das Publikum ist so ermutigend gemischt wie das tänzerische Niveau der Tanzenden, und die Tanzfläche ist gleichbleibend voll. Irgendwann stellt eine dunkelhaarige Frau mit roter Blume im Haar den DJ vor, für den mir diese Bezeichnung seltsam un­passend erscheint. Von dem was sie sagt verstehe ich nur wenig, aber doch immer­hin, dass ich dem letzten Abend der diesjährigen Saison das Glück habe beizu­wohnen und dass man sich gerne für den freien Eintritt mit einer Spende in den Hut bedanken darf. Dem gehört hernach für kurze Zeit der Tanzboden.
Auch ich lege etwas Geld hinein und fühle mich dabei ein wenig wie ein kleines Mädchen, dessen Eltern am Rand ermu­tigend nicken. Das liegt wohl zum einen an meiner nicht weichenden Rührung, zum anderen daran, dass ich nun schon eine ganze Weile aus der Perspektive von Kinderaugen zusehe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Irgendwann meldet mein Hunger sich zu­rück und sowieso breche ich lieber auf, bevor der Tango-Abend sein Ende findet und die Tanzpaare in die sich ankündi­gende Nacht entlässt.

 

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08.09.2013

20 Comments

  • das ist ja ein wunderbares Event.
    und großartige Fotos, die du mal wieder gemacht hast.. ich höre förmlich die Musik in meinen Ohren…! 🙂

  • Anna sagt:

    Ich muss an die Postkarte denken, die über Jahre an meiner Zimmertür hing: Sie hieß "Tango zu dritt" und zeigte eine Frau, die auf den Beinen einer anderen Frau saß, die ihrerseits in einem Rolli saß. Habe das Schwarzweißfoto gerade im Internet gesucht und leider auf die Schnelle nicht gefunden. Jedenfalls habe auch ich das schon erlebt, fast zu Tränen gerührt gewesen zu sein von tanzenden, insbesondere eben von Tango tanzenden Menschen – und über die Fähigkeiten von deren Beinen gestaunt zu haben wie ein Kind; überraschend schlüssig erklärt sich mir mein eigenes Staunen in Deinem Hinweis auf die Perspektive, da auch mein alltäglicher Blick ja immer einer aus der Perspektive eines Kindes war und sein wird.

    Herzlichen Dank für diesen inspirierenden Hinweis und die inspirierenden Bilder sowie das Video also!

  • kaltmamsell sagt:

    HAMMER! (Bekanntlich ein Fachausdruck aus der Tangosprache.)

  • Rebekka. sagt:

    WAHNSINN. Ich schließe mich der Kaltmamsell an.

    Ich kann deine Rührung gut nachvollziehen.

    Und das Video ist großartig. Dieser zurückgeführte Tangoschritt…

  • Jan S. Kern sagt:

    Toll! Herrlich!
    LG
    Jan

  • Diesmal will ich mich nicht ohne Kommentar wegschleichen. Die Frau von gestern und die Art wie du sie mit Worten beschrieben hast, hat mich nämlich ähnlich berührt wie die wunderbaren Bilder dieser "ernsthaft hingegeben" tanzenden Menschen von heute UND dieses verrückte Video.

    Auch die Überschrift (Nah- oder Fern-sehen) gefällt mir sehr.

    Und wieder einmal: Merci!

    schönen Gruß
    Brigitta

  • kaze sagt:

    Danke für diese tollen Bilder, die Mischung der Leute- einfach toll! Die Nähe und die Innigkeit dieses Tanzes ist einfach überwältigend.

  • Isabo sagt:

    Es reicht ja schon, das erste Farbbild mit dem schwarzweiß gekleideten Paar anzugucken, um gerührt zu sein. Was für eine Innigkeit in diesem Bild.

  • ganz wunderbar … ich hab so Lust bekommen zu tanzen, und die Rührung kann ich gut verstehen. Die Bilder strahlen fast eine Spiritualität aus.
    LG

  • an meinem letzten abend in buenos aires saß ich gebannt und sehr berührt und auch irgendwie gerührt am rand einer tanzfläche einer kleinen kneipe, auf der zu den wunderbaren klängen des orchesters el afronte, paare unterschiedlichen alters mit einer anmut und einem unvergleichlichen ausdruck die schönsten tanzschritte machten. es war so schön zu beobachten, wie junge mädchen die sneaker gegen ihr hohen schuhe tauschten und so viel stolz ausstrahlten und wie ein korpulenter junger mann plötzlich so geschickt und erhaben seine vorher genau ausgewählten partnerinnen über das parkett führte. einmalig und zum ersten mal bedauerte ich es, nie eine tanzschule besucht zu haben.

    schön, diese anblicke und gefühle bei dir wieder zu finden!

  • Anonym sagt:

    bewegend!

  • Muyserin sagt:

    Schön gelinst …

  • *HANNE* sagt:

    Super-schöne Bilder. Die Stimmung ist wundervoll eingefangen. Am liebsten würde ich sofort lostanzen – mit dem lässigen Tänzer auf dem 2. Foto! Sehr coooool 🙂

  • Anonym sagt:

    Oh auf den Fotos wirkt der Fischmarkt viel größer als ich ihn in Erinnerung habe. Ich fand den immer sehr schön weil kaum Touris dort waren obwohl er sehr nah am Zentum liegt.
    Ich habe mich damals total in Brügge verliebt. An jeder Ecke gab es was neues zu entdecken. Ich habe gerade eine kleine virtuelle Tour durch die Stadt gemacht und hab mich an meine ganzen Lieblingsorte erinert. Mein Mann musste fast jeden Abend mit mir zu Toni ins "Foyer" direkt am Theater. Hier konnte man sich immer so wunderbar durch seine Tappaskarte testen. Einfach wunderar!
    Ich währ so gerne mal wieder dort. Hach…

  • Anni Kr sagt:

    Wunderbare Fotos! tolle bewegte Bilder!

  • Sally sagt:

    Wow, danke für diese sinnlichen Fotos und Worte von dem tänzerischen Erlebnis am Fischmarkt… ich träume schon so lange von einem Tangokurs, nur der Mann an meiner Seite mag nicht so recht.
    Jetzt bin ich wieder Feuer und Flamme.
    Wobei ich nach dem verlinkten Video befürchte, daß ich das niemals nie wirklich beherrschen werde. 🙂
    Aber Deine Fotos sind wundervoll Smilla, so mitten drin als wäre man selbst dabei gewesen.
    Danke dafür!

  • smilla sagt:

    vielen Dank Sally, das Tanzpaar im Video ist auch ein ganz bekanntes Spitzenpaar 🙂
    So gut muss man gar nicht werden
    Hauptsache, es macht Spaß. und das war auch das schöne an dem Abend in Brügge – genau da dabeizusein

  • Anonym sagt:

    Wäre gerne dabei gewesen, wunderschöne Aufnahmen, Gefühle machen sich breit, danke, dass du uns daran teilhaben lässt. Schaue immer wieder gerne bei dir vorbei und genieße die Vielfalt deiner Bilder und lasse mich gerne inspirieren und erinnern an eigene Erlebnisse in der "alten Vergangenheit". Danke Angelika

  • smilla sagt:

    danke sehr!
    was meinst du denn mit 'alter Vergangenheit'?

  • Oona sagt:

    Ach, dass ist ein wunderbarer Post. Danke nicht nur für die Bilder, sondern auch für das Video.
    Ich kann diese Berührtheit sehr gut nachvollziehen.
    Tango berührt mich in der Musik und in dem Tanz zweier Menschen in einer sehr engen Verbindung. Körperlich und seelisch.
    Dazu diese tollen Schuhe, Kleider, Frisuren (weniger bei den Herren :O) und ach.. TOLL eben.

    Und wieder berührt mich Deine Zartheit und Achtsamkeit, wie Du an solche Orte herangehst und Dich versuchst unsichtbar einzufügen.

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