”1913 – Tanz auf dem Vulkan“


Christoph, Nadja und Lukas von Broadview TV

Irgendwo im All schwebt in der Raumsonde Voyager eine goldene Schallplatte umher. Darauf verewigt sind Bild- und Ton-Botschaften aus unserer Welt an mögliche andere Welten in den unendlichen Weiten des Universums. Die darauf verewigten Fotos, Geräusche und Musikstücke sind gedacht als ”… eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle …“, wie Jimmy Carter es in seinem, der Platte ebenfalls beigefügten Einleitungstext in Worte fasst.

500 Millionen Jahre Lebensdauer haben Experten in den fliegenden Datenträger hinein­ermöglicht, der sich seit 1977 immer weiter von der Erde entfernt.
Der Komponist Igor Strawinsky hat den Abflug seines wohl skandalträchtigsten Werkes „Le Sacre du Printemps“, das der erlesenen Musikauswahl der Platte angehört und auf diese Weise eine äußerst ungewöhnliche Würdigung erfährt, nicht mehr persönlich erleben dürfen; er ist 1971 im Alter von 89 Jahren gestorben.
1913, bei der Uraufführung von Sacre du Printemps in Paris, musste Stravinsky zunächst hinnehmen, dass das Publikum sein von Nijinsky choreographiertes Ballett- und Orchesterstück keineswegs zu schätzen wusste und der Abend gar im Tumult endete.
Die Musik Stravinskys, reich an Dissonanzen und von ungekannter Rhythmik und dazu Nijinskis moderne Choreographie, das war zuviel für das Pariser Publikum.

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden


Tumult bei der Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ from Broadview on Vimeo.

Nicht ganz so spektakulär, dafür aber lebensnah an zeitgenössische Zuschauer adressiert, ist die Würdigung von Le Sacre du Printemps durch einen Themenabend auf arte am kommenden Mittwoch, dem 29.05. zum 100jährigen Jahrestag der Uraufführung. In diesem Rahmen läuft um 20:15 die von Broadview TV produzierte Dokumentation ”1913 – Tanz auf dem Vulkan“.  Zu Beginn  des Films, den ich ausdrücklich empfehlen möchte, tanzt in einer großartigen Zeichenanmiation (der ich die Einleitung zu diesem Text entliehen habe) eine Gruppe Außerirdischer zu Stravinskys Musik – offenbar konnte sie der oben erwähnten goldenen Platte habhaft werden.

Fast 50 Personen habe ich im Nachspann des Filmes gezählt; Lukas Hoffmann, Christoph Mathieu und Nadja Lischewski sind drei davon, sie hatten von Anfang an große Lust am Film mitzuarbeiten und in gewisser Weise stehen sie als Redaktionsteam (gemeinsam mit der vierten Redakteurin Lena Werle) unmittelbar im Zentrum des Geschehens: so halten sie alle Fäden in der einen Hand und reichen gleichzeitig aber auch allen an der Produktion beteiligten die andere Hand.

Die besondere Herausforderung bei diesem Film bestand darin, einen Film über ein ganzes Jahr, nämlich das Jahr 1913, zu realisieren: ”Meistens erzählt man über eine Person, oder ein Ereignis. In dem Fall hatte man aber keine Hauptfigur – man hat zwar das ‚Sacre du Printemps‘ Motiv, aber es ist kein Film, der nur darum geht – man hat ein ganzes Jahr, und da kann ein Film unglaublich leicht zerfallen.“ sagt Christoph.
Weiter geht’s, bitte hier entlang …

Dazu kam eine weitere Herausforderung: Zeitknappheit. Da der Sendetermin auf den Jahrestag der Uraufführung 1913 fallen sollte und sich so eine Produktionsdauer von knapp 5 Monaten ergab, hat sich nicht nur ein Regisseur ans Werk gemacht, sondern ein Team von sechs Autoren unter der Federführung des Headautors Dag Freyer: ”Es ist eigentlich das beste Beispiel für Teamwork, und es war insofern ein Experiment“, sagt Lukas. ”Man hatte sechs Autoren, die sehr versiert sind, aber wir standen vor der Frage, wie halten wir das Ganze zusammen? Wie wird da wirklich ein sinnvoller, dramaturgisch gut durchdachter Film draus, aus diesen einzelnen Episoden, ohne dass es einfach eine Aneinanderreihung ist?“

”1913 war ein Jahr voller gesellschaftlicher Umbrüche“ sagt Christoph. Besonders in der Musik, der Kunst und der Mode sei dies zu spüren gewesen. ‚Sacre du Printemps‘ sei deshalb wie ein Leitmotiv des Filmes: ”Die Musik liegt da irgendwie drunter …bämbämbäm, wie die so ist. Ich glaube, dass die wie so ’ne Dampflock durch dieses Jahr ballert und dass man da irgendwie drauf springt und sich mitziehen lässt. “
Die Kunsthistorikerin Cécile Debray formuliert das im Film so: ”Die Künstler erleben 1913 wie eine Epoche auseinanderbricht und diese Erfahrung spiegelt sich auf fast brutale Weise in ihren Werken wieder.“ Noch eindrücklicher beschreibt Stravinsky selbst den Kern seines Schaffens; Margrith Fornaro, die als 16jährige Aupair-Mädchen bei Stravinskys Sohn Théodor war, hat bei einer Begegnung Stravinsky gegenüber geäußert, seine Musik ”sei ihr ein wenig fremd, mit diesen vielen Dissonanzen“. Stravinsky entgegnete, er habe immerhin zwei Weltkriege und  die Revolution erlebt: ”… das ist in die Seele eingegangen und kommt in Tönen wieder heraus.“

Zwischen 1913 und 2013 liegen einhundert Jahre; das ist viel und wenig zugleich. ”Ich hab an der einen oder anderen Stelle mal gedacht, dass es ja eigentlich erst hundert Jahre her ist, dass bestimmte Dinge passiert sind. Sei es in der Technik oder sei es die Emanzipation der Frau. Oder dass die Mode damals erst durch Coco Chanel so praktisch wurde; dass es erst 100 Jahre her ist, dass die Frauen sich die Corsagen nicht mehr so eng geschnürt haben.“ Gleichzeitig fragt Nadja sich, wie es wohl in einhundert Jahren sein wird: ”… wie dann die Menschen auf uns und unsere Zeit blicken, was unser Sacre du Printemps wäre.“

Auf meine Frage, wie die intensive Arbeit an so einem Film die eigene Sichtweise verändert oder beeinflusst, antwortet Christoph: ”Wenn man bedenkt, dass das tatsächlich erst hundert Jahre her ist, und dass vor hundert Jahren noch 2 Weltkriege bevorstanden, dass an ein vereintes Europa nicht zu denken war und an ein friedliches erst recht  nicht, da wird man schon ein Stück weit demütiger. Und es ist auch ein bisschen traurig zu sehen, wie weit zum Beispiel die Emanzipation schon fortgeschritten war 1913 und in den zwei, drei Jahren davor, oder wie die Kunst anfing sich zu revolutionieren und die Musik. Das ist ja alles wieder zurückgeschlagen worden, die Nazis haben das im Prinzip ja alles wieder gestoppt. Da wird einem schon bewusster, wie kostbar das ist, das man die Welt heute so hat, wie sie ist, zumindest in Zentral-Europa.“

Auch wenn Nadja, Christoph und Lukas hier am leeren Tisch sitzen; alle drei stecken bereits wieder tief in der Vorbereitung und Recherche zu neuen Filmprojekten.

Im Blog von Broadview TV und bei Twitter wird es parallel zum Film einen Live-Kommentar-Stream geben.

27.05.2013

6 Comments

Schreib mir!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© Smilla Dankert 2019 | Impressum | Datenschutz