Wärmendes Wams

Vor über dreissig Jahren hat Frau Z. ihren karierten Mantel in einem kleinen Laden beim Dom gekauft. Weil sie keinen Pulli und keine Strickjacke darunter tragen kann, hat der Mantel üblicherweise ab November temperaturbedingte Tragepau­se. Nicht so allerdings in diesem Jahr: „Es ist ja ungewöhnlich mild. Die Pappeln haben noch nicht mal alle Blätter ver­loren.“ Trotzdem trägt Frau Z., quasi als Strick­jackenersatz, ein wämendes „Wams“, wie sie es nennt. Das hat sie selbst ge­webt: „…und mit einer alten Seidenbluse ab­gefüttert.“ Viele Stücke im Kleider­schrank von Frau Z. sind mehrere Jahr­zehnte alt: „Die Sachen gehören wirklich zu mir.“
Frau Z. ist im 83. Lebensjahr, und weben tut sie noch immer. Sie hat in Karlsruhe Architektur studiert: „Da war ich noch so jung, das war gerade nach dem Krieg.“ Das Bauhaus hat sie fasziniert und die neue Sachlichkeit. Frau Z. hat Kinder bekommen und großgezogen, und erst mal nicht mehr gearbeitet. „Mit 40 hab ich  dann was Neues angefangen, da war ich Berufsschullehrerin.“ Als Diplomingeni­eurin hat sie Lehrlinge im Baubereich unter­richtet, aber auch beispielweise Foto­grafen: „Mit denen habe ich dann über menschliche Gebrauchsspuren auf Wegen oder Zebrastreifen diskutiert.“
Auf meine Frage, was im Leben wichtig ist zitiert sie Eugen Drewermann: „Es gibt ein Wort, das habe ich in einem seiner Bücher gelesen: überlieben. Man kann andere Menschen überlieben, aus einem tieferen Verständnis heraus. Also ‚über‘ im Sinne von mehr.“
More than 30 years ago Mrs. Z. bought her chequered coat in a small boutique near the cathedral. For the reason that no sweater and no cardigan would fit under the coat it usually, due to the weather, has it’s time off from november on. But not this year: „It’s exceptionally mild weather. The poplars didn’t even defoliate yet.“ But anyway Mrs. Z. wears a warming waistcoat on top. It’s self-woven: „…and I lined it with an old silk-blouse.“ Many clothes in her wardrobe are several decades old: „They really belong to me.“
Mrs. Z. is almost 83 years old and she still is weaving fabrics. She has studied Architecture in Karlsruhe: „I was so young, it was right after the war. “ Bauhaus fascinated her and the New Objectivity. Mrs. Z has given birth to her children and so she first didn’t work for a while. „When I was 40 I’ve started something new, I became vocational college teacher.“ As a graduated engineer she educated students of the building industry, but for example photographers, as well: „With them I was talking about human traces of usage.“
On my question what she considers important in life she quotes Eugen Drewermann:“ There is a word of him I’ve read in one of his books: over-love. You can over-love somebody, out of a deeper understanding. So, ‚over‘ in the meaning of more.“

18 Comments

  • Liisa sagt:

    Was für ein grandioses Gesicht Frau Z. hat!

    Und über das Wort "überlieben" und seine Bedeutung muss ich jetzt erstmal eine Weile nachdenken.

    Interessanterweise hab ich – bevor ich die Erklärung dazu las – genau das Gegenteil angenommen, nämlich dass man Menschen mit Liebe auch erdrücken/ersticken kann.

  • Cindora sagt:

    "dreissig Jahren hat Frau Z. ihren karierten Mantel" also früher hat man noch Klamotten für ne halbe Ewigkeit kaufen können. Im 21 Jh. hält ja kaum noch etwas länger als eine Saison. ô.ô

  • sevda sagt:

    also, ich verfolge schón seit einiger Zeit deinen Blog und bin begeistert von der Aufmachung, vom Konzept und deinem Sinn fürs Detail. Danke, dass Du uns daran teilhaben lässt!!

  • Zaunwinde sagt:

    Deinen Artikel finde ich wieder sehr interessant. Dankeschön! Der Mantel ist ja im Muster zeitlos …auch wurde in der Generation von Frau Z. überhaupt nichts weggeworfen…ich kenne das noch von meiner Mutter.
    Das Wort "überlieben" definiere ich so: jemanden lieben auch wenns schwer fällt. Z.B. bei Kindern im der Pubertät fällt das teilweise schwer, aber gerade in ihrer schlimmsten Phase brauchen sie besonders viel Liebe über das normale Maß hinaus…hierzu würde das Wort "überlieben" sehr gut passen.
    Ich wünsche einen schönen Tag…herzlichst Zaunwinde

  • mo jour sagt:

    vielen dank für diese geschichte!

    schöne koinzidenz:
    gerade gestern habe ich meinen wintermantel wieder hervorgeholt: den habe ich vor 25 jahren 2nd-hand gekauft. da war er schon 30 jahre alt. ich liebe ihn sehr und trage ihn oft: der mantel ist älter als ich.

    alles gute für dich und Frau Z. !
    mo jour

  • Bartynova sagt:

    Was für eine coole Socke…. Wie wunderbar, dass es solche Frauen gibt.

  • smilla sagt:

    Cindora, ja, das hab ich auch gedacht, vor allem sieht man es dem Mantal überhaupt nicht an.
    Zaunwinde hat's ja bereits gesagt; zeitlos ist er obendrein.
    Er ist von Style of England, hat sie gesagt, sie hat auch noch einen dickeren Mantel von diesem Label. Ich kenn es leider nicht, hab auch nichts darüber gefunden.

    Mo Jour, den würd ich ja gern mal sehen 🙂 für dich auch alles gute 🙂

    Liisa, ging mir ähnlich zuerst. Und als ich den Text übersetzt habe fand ich es auch richtig schwer, denn im englischen klingts noch mal mehr nach erdrücken…
    Letztendlich geht es vermutlich mehr um die innere Haltung, den Ansatz, und weniger ums überlieben selbst.
    So, wie Zaunwinde das mit der Pubertät anspricht.
    Ich selbst verfüge allerdings nicht über die Fähigkeit oder den Ansatz jeden Menschen lieben zu wollen, mir geht bei bestimmten Themen die Puste aus, das muss ich ehrlich sagen. Kaltblütigkeit ist zum Beispiel so etwas, da ist mein erster Gedanke oder mein erstes Gefühl keineswegs Liebe. Auch wenn wirkliche Reflektion das nahe legen würde.

    Sevda, vielen Dank!! das freut mich sehr

  • Anonym sagt:

    Hallo Smilla,
    Ich finde deine Porträts von alten Leuten immer so schön und irgendwie lustig im netten Sinn.
    Mir gefällt es, wenn sie Dinge tragen, die so alt sind, daß sie eben schon wieder cool aussehen ( erinnert mich an alte Männer mit Nike Cortez-Schuhen oder Kangol-Mützen die sie richtig "falsch rum" tragen)
    Auch dieser Mantel ist so wunderschön zeitlos und ergibt zusammen mit den aktuellen Schnürschuhen ein so topaktuelles Outfit, daß ich sicher schmunzeln müßte, würde ich Frau Z. auf der Straße sehen.
    Ich selber trage einen Woll-Mantel von meiner Großtante mit Armstulpen (weil meine Arme im Vergleich zu Ihren viel zu lang sind), und werde von Jüngeren oft gefragt, wo ich ihn gekauft habe. Andererseits frage ich mich dann, ob Leute im Alter meiner Großtante ebenso schmunzeln müssen und sich fragen, ob es nicht mal an der Zeit wäre, einen neuen Mantel mit ausreichend langen Ärmeln zu kaufen 😉

    bitte immer weiter so, ich schaue sehr gern hier rein.
    liebe Grüße
    Susanne

  • Tante B sagt:

    Tolle Frau. Ich würde gerne mit ihr einen Kaffee trinken gehen.
    Die Idee mit dem Wams ist phantastisch und gibt dem Mantel den richtigen Kick!

  • Anna sagt:

    Liisa und Smilla, ihr habt schon alles gesagt, was mir zum Thema "überlieben" und überhaupt auch eingefallen wäre. Also sage ich nur noch kurz, dass es in Frau Z.'s Generation gerade als Frau sicher alles andere als selbstverständlich war zu studieren, oder!? Umso mehr: Kompliment!

  • Björn sagt:

    Ich lese euren Blog so gerne.. ganz großes Kompliment!
    Frau Z. erinnert mich wahnsinng an meine Oma.. hach schön. Es sieht aber auch wirklich toll aus.

    Liebe Grüße
    Björn
    http://herzfutter.blogspot.com/

  • Majana sagt:

    Was für wunderbare Fotos und Geschichten! Ich habe den blog eben erst entdeckt und werde hier zukünftig regelmäßig mitschauen und -lesen. Vielen Dank für's Teilen!

  • Anna sagt:

    Es ist beinahe, als würde Berenike (26.10.2011) mit ihrem Mantel Frau Z. als junge Frau verkörpern!

  • Text-burger sagt:

    Ach wie schön! Sie sieht toll aus. So glücklich.

    Übrigens habe ich heute in Leipzig mitten auf der Straße einen jungen Mann gesehen, im Frack, wie kostümiert. Er ging wie ganz selbstverständlich die Straße entlang. Ich dachte sofort an dich, SMilla, du hättest ihn ganz sicher angesprochen 🙂

  • smilla sagt:

    Anna, ne, selbstverständlich war es sicher nicht zu studieren.
    witziger Gedanke, das mit Berenike 🙂
    Mit Berenike könnte man prima "historische"Fotos machen.

    Text-burger, ich hab neulich auch einen im Frack gesehen, und das war, wie ich stark vermute, keine Verkleidung sondern eher eine Attitude, ich hab kurz überlegt, reflexhaft quasi, aber irgendwie war er mir nicht sympathisch, also hab ich es gelassen.
    Mir geht's ja gar nicht so um die lauten, schrillen Sachen.
    Aber Leipzig steht immer noch auf meiner Liste ganz oben, wo ich gerne mal hinfahren würde zum fotografieren.

    Björn, vielen Dank fürs Kompliment (ich schreib den Blog aber alleine 🙂 )

    Susanne, ja, das geht mir auch so, ich hab auch schon ein paar mal bei den älteren Herrschaften gedacht, dass sie wirklich total modern rumlaufen, ohne dass es Absicht wäre. es ist als würde der schmale Streifen Trend eben für eine Weile sie mitanleiuchten, bis der nächste Retro-Trend angesagt ist.
    Und deine Vermutung über die Gedanken der älteren über die zu kurzen Ärmel, da ist sicher was dran :-), da werden ja dann ganz ernsthafte Maßstäbe angesetzt, wo die Ärmel faktisch auch einfach zu kurz sind. Kann ich auch nachvollziehen.

    Majana, vielen Dank 🙂

  • Oona sagt:

    Früher war die Kleidung für eine halbe Ewigkeit gedacht. Toll.
    83 Jahre. Wieder eine mir Mut machende Frau. Schön.

    Im Moment gerade total inspiriert u.a. von Deinem Blog und Deinen Bildern und Menschen und Geschichten, da lese ich auch die alten Post.
    Eine wunderbare Beschäftigung an einem grauen Nachmittag.

  • mano sagt:

    mir gefällt sehr, dass du hier auch ältere menschen vorstellst. faszinierende gesichter und spannende geschichten – das macht spaß zu lesen und anzuschauen. 🙂 danke!

  • Toll! Also wenn man sie sieht bekomme ich Lust auf die Zukunft!

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