Tarlabaşi, Istanbul

Bevor ich 2010 das erste Mal nach Istanbul gereist bin habe ich neben allerlei Tips, was ich mir dort unbedingt ansehen müsse auch den eindringlichen Rat bekommen, einen Stadtteil auf jeden Fall zu meiden: Tarlabaşi. „Da hat sich lange Zeit nicht mal die Polizei reingetraut“ lautete der finale Satz des Ortskundigen, dem die eine oder andere bildhafte Beschreibung vorange­gangen war, mit welchen misslichen Situ­ationen zu rechnen sei, sollte ich dennoch einem Besuch des Viertels nicht wider­stehen können. Wo genau der gefährliche Sündenpfuhl sich befinde, in dem Krimi­nelle, Transvestiten, Drogendealer und Meuchelmörder mir entgegenlauern wür­den, wollte ich gern wissen, nicht dass ich unabsichtlich dort hineinliefe. „Vom Taksimplatz rechts, steil bergab“ lautete die Antwort und in meinem Kopf entstand das Bild einer engen, kleinen dunklen Gasse die ins Verderben hinein und möglicherweise nicht mehr herausführt.

„Es ranken sich eine Menge Mythen darum, was in armen Gegenden vorkommt, was in Slums passiert.“ antwortet David Harvey, Professor der Anthropologie und Geo­graphie aus New York auf die Frage, wie er die Kriminalisierung der Armen als Argu­ment für städtische Erneuerung entkräften könne. Gestellt wurde ihm die Frage in diesem Video, das Jonathan Lewis für seinen Blog Tarlabaşi Istanbul, den er gemeinsam mit Constanze Letsch schreibt, gedreht hat.
Tarlabaşi verbirgt sich hinter keiner kleinen, dunklen Gasse. Tarlabaşi ist ein Teil vom bekannten Stadtteil Beyoglu, allerdings jenseits des Tarlabaşi Boulevard, da wo eben kaum jemand hingeht, der nicht dort wohnt.
Weiter gehts, bitte hier entlang…

Tarlabaşi ist nicht das einzige Armenhaus Istanbuls, aber ein zentrales und ein großes, wenn man inzwischen auch rich­tigerweise sagen muss, es war ein Armen­haus. 2006 hat die türkische Regierung seine Erneuerung beschlossen. Auf einer Fläche von 20.000 qm wird nun der größte Teil der Häuser, knapp 300 Stück, abge­rissen.
Die Bewohner des Viertels wurden und werden für dieses Vorhaben zwangsge­räumt, seit 2008 leert sich das Viertel zusehends, wenngleich immer noch Menschen in der ruinösen Gegend leben.

„Städte müssen sich verändern, ich denke das ist wichtig. Aber sie müssen sich mit ihrer Bevölkerung verändern.“ sagt David Harvey. „Wenn also eine Umwandlung stattfindet, dann sollte das Recht auf Rückkehr ein Kernpunkt sein.“
Zurückkehren werden aber die allerwenig­sten, denn kaum einer der ehemaligen Bewohner wird sich die Mieten inmitten der geplanten Bürogebäude, Shoppingtem­pel und Hotels noch leisten können.

„Die Bourgeoisie löst die Probleme nicht, sie schiebt sie nur herum.“ sagt David Harvey und zitiert damit eine Aussage Friedrich Engels. „Nicht die Verarmung verschwindet also, oder die niedrigen Löhne oder das Randgruppendasein, das wird einfach nur weitergeschoben.“
Die Stadt bietet, zumindest offiziell, den ehemaligen Bewohnern die Möglichkeit in isolierte Hochhaussiedlungen weit weg vom Zentrum Istanbuls zu ziehen. Aber auch hier sind Mieten und Fahrtkosten oftmals unerschwinglich für jene, die als Müll­sammler, Schuhputzer oder Spülhilfe in der Innenstadt arbeiten.
„Menschen die zwangsgeräumt werden verlieren nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihren Job, ihre Nachbarschaft, ihr soziales Netz.“ sagt Mücella Yapici von der Istanbuler Architektenkammer im Interview mit dem Guardian.

Sie betont, dass die Wohnblocks weit draußen vor der Stadt die Menschen am Rande der Gesellschaft noch weiter isolieren: „Eine Stadt sollte Menschen zusammenführen, nicht trennen.“

David Harvey malt das Bild des Stadtteils, der entkriminalisiert und gesäubert werden müsse auf seine Weise aus: „Ich mag die Sichtweise, dass eigentlich gerade die wohlhabenden, geschlossenen Wohnanla­gen voller Krimineller sind, eben White-Collar-Kriminelle die die Welt ausrauben, wenn sie an der Wall-Street zur Arbeit gehen, oder so in der Art. Stellen Sie sich vor, man würde dort hineingehen und sagen: ‚Wir säubern das hier alles, weil ihr alle kriminell seid.'“

Bei meinem 2 Aufenthalt in Istanbul im April diesen Jahres standen viele Häuser in Tarlabaşi leer. Und sie waren nicht nur menschenleer, sie waren auch demoliert und geplündert. Ohne Fenster, Türen, Geländer oder Armaturen warten sie nun auf ihren finalen Todesstoß. Nur die Spuren ehemaligen Lebens sind geblieben, dort, wo die Bewohner schon längst gehen mussten.
Und dennoch werden einzelne Häuser oder auch nur Etagen weiterhin bewohnt; von Menschen, die nicht wissen wohin oder die sich weigern zu gehen.
When I went to Istanbul a second time,  during april this year, I found many houses in Tarlabasi empty. They weren’t just uninhabited, they were also demolished and looted. No more windows, doors, handrails and tapwars all over the place; the houses are waiting for their final deathblow. I only found some traces of those who had left already.
Nevertheless; some houses, flats or floors are still inhabited. From those who don’t know where to go or those who aren’t willing to leave.

Strenge Auflagen haben es den Mietern jahrelang unmöglich gemacht ihre Woh­nungen im denkmalgeschützten Tarlabasi instandzuhalten. Viele Häuser sind nun so verrottet, dass sie einsturzgefährdet sind. Sanierung tut also Not. Allerdings wird die Bausubstanz nicht restauriert, sondern es werden neue Häuser in „historischem Look“ gebaut, eine Art osmanisches Disneyland. Bereits mehrfach hat die Unesco gedroht, Istanbul den Status als Weltkulturerbe abzuerkennen. In Stadteilen wie Fener, Balat oder Sulukule wurde bereits in dieser Manier Städtebau betrieben.

Ich solle meine Kamera lieber einpacken, macht mir der Mann am Fenster in Zeichen­sprache klar, auch wenn er mir erlaubt ihn zu fotografieren. Kommt sonst die Polizei? frage ich. „Nein. Mafia, Mafia.“ raunt er mir zu. Mit seiner Mutter lebt er hier, sie sind Roma. Wie lange sie hier leben, frage ich. Lange, sehr lange, so deute ich die Handbewegung, die als Antwort kommt. Der Mann am Fenster ist wohl hier zur Welt gekommen.

Eine Strasse weiter fahren die Kinder Karussell. Wieder eine Ecke weiter stehen Ruinen.
Jonathan vom Tarlabaşi Blog hat mir vorgestern geschrieben, dass noch immer ca 80% der leeren Häuser stehen. Am großen Tarlabasi Boulevard ist bereits ein Viertel abgerissen. Die Fassade zum mehrspurigen  Tarlabaşi-Boulevard wird offenbar zuerst gemacht.

Ein ermutigendes Video im Kampf gegen die Gentrifitierung in deutschen Landen  hab ich hier bei Konsumpf gefunden.

19 Comments

  • Anonym sagt:

    Ich lese schon eine ganze Weile schweigend in diesem wunderbaren Blog.
    Im Oktober ist eine Reise nach Istanbul geplant. Ich finde gerade solche Geschichten spannender als jeden Reiseführer.
    Was für eine Schande, die Häuser sehen aus, als wären sie einmal wunderschön und voller Leben gewesen. Vielen Dank für die vielen und eindrucksvollen Bilder.
    Grüße
    Barbara

  • Christjann sagt:

    Das erinnert mich an meine Angst, als ich zum ersten Mal nach Marseille gefahren bin…. ich hatte auch Angst in einen düsteren Moloch zu geraten… völlig umsonst übrigens…
    und in Marseille wurde auch (allerdings in den vierziger Jahren, und man liess das gern von den deutschen Besatzern erledigen) das dunkle, kriminelle Hafenviertel abgerissen, man hoffte so auch, alles Kriminelle aufzustöbern und/oder loszuwerden… da stehen jetzt einheitlich konfektionierte Häuser, ohne Seele, ohne Charme…

    deine Fotos sind in ihrer Tristesse wunderschön – DANKE mal wieder!
    lieben Gruss
    Christiane

  • beautyjagd sagt:

    Tarlabasi, da habe ich in Istanbul gewohnt und viele Erinnerungen werden gerade bei mir wach! Ich mochte den Stadtteil sehr und der Markt am Sonntag ist einfach grandios. Wahrscheinlich war es aber schon ein Zeichen für die fortschreitende Gentrifizierung, dass ich da leben konnte. Danke für deinen tollen Bericht, der mich nachdenklich und sentimental macht.

  • Liisa sagt:

    Toller Einblick in ein vielen unbekannten Teil Istanbuls. Ich wäre auf jeden Fall auch dort fotografieren gegangen. Solche Ecken ziehen mich (fotografisch) magisch an.

  • Wolfram sagt:

    Diese Häuser zeugen von vergangenem Wohlstand – aber das kann man in (sehr ähnlich aussehenden) vergleichbaren Vierteln in Berlin, Köln, Metz oder Paris auch sagen…
    Schade, wenn Denkmalschutz zum Vorwand wird, um ganze historische Stadtviertel erst verrotten zu lassen und dann auszulöschen.
    Noch trauriger, daß die Menschen, die hier lebten, nun wohl auch seelisch verrotten werden.

  • Klickerklacker sagt:

    Superfotos!

    Und sehr heftige Geschichte, die so um so eindrucksvoller wird.

    Ich konnte erst nur den Text lesen, und dann haben mich die Fotos aber echt umgehauen!

    Hut ab vor dir!

  • schokominza sagt:

    ein ernsthaftes problem und wunderschöne bilder – danke dir für diesen beitrag!
    LG – steffi

  • Anonym sagt:

    vielen Dank für diesen eindrucksvollen, traurigen Bericht.

  • woll-as sagt:

    Klickerklacker hat alles gesagt, ich kanns nicht besser. Mir ging es genauSO.
    Danke, es ist immer bewegend dieses blog zu schauen und zu lesen.
    woll-as

  • erschreckend, und das alles nur wegen profit und eitelkeit. die bilder sind trotz ihres schreckens wunderschön. eine schande für die ehemaligen bewohner und die früher sicher wunderschönen häuser…die gebliebenen menschen verdienen größten respekt, das sie in einer solchen "geisterstadt" ausharren und sich nicht vertreiben lassen. gut, dass menschen wie du auf solche geschehnisse aufmerksam machen.
    viele liebe grüße von dornrös*chen!

  • Anna sagt:

    "Wie im Krieg!" hab' ich gestern Abend beim Anschauen schon des ersten Bildes gedacht – und das, was ich dann las, hat den ersten Satz in meinem Kopf irgendwie immer mehr bestätigt: es ist eine Form von Krieg, scheint mir. Schockierend – und wichtig, es zu wissen! Danke!

  • vielen Dank für diesen nachdenkenswerten und wunderbar bebilderten Beitrag über ein sterbendes Viertel. LG

  • Oona sagt:

    Die Bilder sind ganz stark, liebe Smilla.
    Das Bild mit den Kindern und der Pistole ist eines der mich am meisten bewegenden Bildern.

  • Wow! Ein großartiger Post, Frau Kollegin! Wünsche dir noch eine wunderbare Zeit auf Reisen!

  • Anonym sagt:

    Tolle Bilder!

  • vielen Dank für diesen eindrucksvollen, traurigen Bericht.

  • Anonym sagt:

    Ich kenne das Viertel 26 Jahre. Es war schon damals kaputt und man sollte es meiden. An den Häusern wurde nichts gemacht, da entweder die Mieten zu niedrig waren oder aber der Besitzer nicht die Mittel hatte.

    Die Häuser sind nicht mehr zu retten. Auch gerade wegen der Erdbebengefahr in Istanbul.

    Man baut wenigstens im gleichen Stil. Andere Städte würden Glaskästen dort hinsetzen…

  • Anonym sagt:

    "Die Häuser sind nicht mehr zu retten. Auch gerade wegen der Erdbebengefahr in Istanbul."

    Das ist so nicht richtig. Die Fassade und Inneneinrichtung ist oftmals marode und sanierungsbedürftig. Das macht die Häuser aber noch lange nicht zum Abrissfall. Der Grund für den Abriss ist, dass hier Bezirksverwaltung und privater Investor (GAP Insaat) ein riesen Geschäft wittern. Die Häuser sollen mit der alten Fassade wieder neu aufgebaut werden. Mehrere Gebäude die nebeneinander stehen, sollen dabei zusammengefasst werden, damit dort Platz entsteht für Hotels, Einkaufszentren, Büros etc. Von der historischen Bausubstanz aus dem 19. Jahrhundert wird dann nichts mehr übrig bleiben.

    Diesem Treiben wird stattgegeben obwohl dieser Bezirk schon seit 1993 unter Denkmalschutz steht. Nur wenn der Bausektor quasi den Hinterhof der derzeitigen Regierungspartei bildet, darf man sich nicht wundern wenn sowas dabei rauskommt.

  • ein ernsthaftes problem und wunderschöne bilder – danke dir für diesen beitrag!

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