Merhaba, benim adım Smilla – Begegnungen in Istanbul

Zum fünften Mal war ich nun in Istanbul. Viele Gedanken habe ich mir vor dieser Reise gemacht: Soll, kann, darf ich das tun? In ein Land reisen, das sich im Ausnahmezustand befindet, in dem Journalisten und Oppositionelle im Gefängnis sitzen. Ein Land, in dem man auch als Besucher keine kritische Meinung zum politischen Geschehen äußern sollte. Wo man nicht den falschen Leuten die falschen Fragen stellen sollte. Ich bin diesbezüglich nicht sehr mutig und bestimmt kein Draufgänger.
Nach Istanbul zu reisen ist für mich, wie eine Freundschaft zu pflegen; diese Stadt berührt mein Herz. So, wie man die Nähe zu den Menschen sucht, die man liebt, so laufe ich durch Istanbul und versuche, der Stadt nahe zu sein. Für mich geht das über den Kontakt zu Menschen: der Topkapı-Palast, die blaue Moschee; ich war noch nie dort. Es sind nicht Sehenswürdigkeiten, sondern Stadtviertel, in die ich meine – im besten Sinne – planlosen Ausflüge mache. Ich fahre mit Bus, Fähre, Metro oder Dolmuş an einen Ausgangspunkt meiner Wahl und laufe los – der Rest ergibt sich.


Diese Spaziergänge lasse ich geschehen; meist laufe ich sehr langsam, machmal stehe ich auch nur so herum und warte, wohin mich der nächste Impuls gehen lässt. Wenn mir auffällt, dass ich auffalle fange ich an, freundlich zu grüßen: „Merhaba!“. Diese Kleinigkeit bewirkt erstaunliches; ich werde angelächelt, ebenfalls begrüßt, herbeigewunken und sogar eingeladen Platz zu nehmen. Ich verfüge über sehr mickrige Kenntnisse der türkischen Sprache (Çok az Türkçe konuşabiliyorum) kann mich aber vorstellen (Benim adım Smilla), höflich etwas zu Essen bestellen, nach dem ungefähren Weg zurück fragen, und habe allerlei Satzfragmente parat, die jedoch niemals ein wirkliches Gespräch erlauben. Wirklich immer finde ich das schade, und gleichzeitig habe ich gelernt, dass einfach nur so Dasitzen und zeigen dass man es gerne tut, oft schon eine wohlwollende Grundstimmung erzeugt, die sehr entspannend sein kann und das Verweilen ermöglicht.

Nach und nach erkunde ich auf diese Weise seit Jahren ein Stadtviertel nach dem anderen: und davon gibt es in Istanbul unglaublich viele. Allein Fatih, eine Gemeinde Istanbuls mit über 400 000 Einwohnern unterteilt sich in 102 kleine Stadtteile, die Mahalle. Diese Fotos sind entstanden auf dem Weg von Ayvansary nach Draman über Balat und Fener. Dabei bin ich so sehr Zick-Zack gelaufen, dass ich natürlich nicht ordentlich von einem zum nächsten Stadtviertel gelangt, sondern immer hin und her gependelt bin, wie ich später rekonstruiert habe. Weil ein Tag für so viel Gegend zudem nicht ausreicht, bin ich am nächsten Tag nochmal dorthin.
Weiter gehts, bitte hier entlang …

Seit zwei Jahren hat Incilay ihr kleines Café Pavita in Fener. Es liegt etwas versteckt in einer Seitenstrasse. Ich mache dort am ersten Tag eine Pause; das Café ist so schön leer und es gibt einen Tisch im Schatten. Ich bestelle Menemen (eine Eierspeise) und es ist besonders gut. „Food is love“ steht auf der Visitenkarte, die mir Sevilay, Incilays Tochter, beim Abschied gibt. Den zweiten Tag beginne ich im Pavita bei einem Tee, zu dem Incilay mir mit mütterlicher Geste einen Teller mit Pişi und Honig serviert. Einfach so. Pişi ist ein frittiertes Gebäck und sehr, sehr lecker!

Hikmet ist Makler. Seit 45 Jahren hat er sein Büro an diesem Platz und ganz bestimmt hätte er viel interessantes über den Wandel des Viertels zu berichten: die Veränderungen im Lauf der Jahrzehnte und auch die gegenwärtigen. Es wird bunt in einigen Strassen; es ist ein junges Bunt und es bringt neue Bewohner ins Viertel und alsbald vermutlich auch mehr Touristen. Eine weitere Stufe der Gentrifizierung.

Ahmet, Gemüsehändler.

Aylin steht inmitten einer Schar junger Frauen, die sich um eine Frau mit einem Säugling versammelt haben. Es ist eine Freude und ein Jauchzen; der neue, junge Mensch wird ausgiebig bewundert. Ich frage vorsichtig ob ich ein Foto machen darf: die Frauen reagieren freundlich, aber fast alle gehen einen Schritt zurück. Nur Aylin bleibt stehen; sie hat ihre Nichte auf dem Arm, und sie ist die einzige ohne Kopftuch oder Schleier. Die anderen ermuntern sie, sich fotografieren zu lassen. Ich mache also ein paar Fotos, auch wenn die anders sind als gedacht. Die Frauen gucken die Fotos an und sind begeistert. Zwei wollen sich nun doch fotografieren lassen; aber nicht hier, sondern in einer Nebenstrasse. Wie ich es verstehe, möchten sie in die Strasse, in der sie wohnen. Auch Aylin möchte gerne noch weitere Fotos machen und so laufen wir gemeinsam los.

Meltem, Tuğba und Aylin sind Freundinnen, und dass ich als Frau alleine mit der Kamera unterwegs bin beeindruckt sie.

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Aylin lotst mich zu einem Hauseingang und macht sich für die nächsten Fotos bereit. Meltem und Tuğba stehen dabei und kommentieren. Aylin drappiert ihre Haare, zieht die Jacke halb aus, entblößt beide Schultern und wirft sich verführerisch in Pose. Mich rührt das sehr an. Mit ihrem kirschrot geschminktem Mund probiert sie sich aus und ich darf daran teilhaben. Trotzdem erkläre ich recht bald, dass ich sie anders fotografieren möchte: natürlicher. Gemeinsam mit ihren Freundinnen guckt sie die Fotos an und während Tuğba, Meltem und ich die natürlichen bevorzugen, guckt Aylin gebannt die Posen an. Schließlich sage ich: „Schluss, ein letztes noch“ und Aylin schielt zum Abschied in meine Kamera.

Bekir

Nagihan führt seit zwei Jahren das Aşk-ı Rüba Kafe in Balat, in dem sie türkischen Kaffee, Kuchen und Gebäck anbietet.

Keine 200 m von der Einkaufsstrasse entfernt, die Fener und Balat verbindet und in deren Umfeld sich auch die noch recht neuen, modernen Cafés ansiedeln, verändert sich das Straßenbild. Es gibt insgesamt weniger Geschäfte; ein paar kleine, rummelige Krämerläden – das wars. Es sind auch weniger Menschen auf der Strasse. Das ändert sich erst als ich mich der nächsten größeren Hauptstrasse nähere. Aber zuvor treffe ich Selim. Der sitzt vor seinem Haus und lädt mich ein, mich zu ihm zu setzen. Weil Ramadan ist bietet er mir keinen Tee an. Selim hat 11 Kinder: 6 Söhne und 5 Töchter. Seine Frau hängt auf dem Balkon des Hauses Wäsche auf, und ich gucke bewundernd zu der Frau hinauf, die alle diese Kinder zur Welt gebracht hat. Ich lerne sie nicht kennen. Sie gesellt sich nicht dazu und Selim bittet sie auch nicht herunter. Als ich mich zum gehen bereit mache nimmt Selim meine Hand, und ich bin ein wenig erschrocken darüber, wie fest er zudrückt.



In Stadtviertel Draman – oder ist es schon in Atikali? – laufe ich die Hauptstrasse entlang und fotografiere deutlich zögerlicher. Dieses Viertel ist sichtbar religiöser geprägt als Fener und Balat. Die Menschen sind anders gekleidet und ich kenne die Codes nicht, um mich angemessen zu verhalten. Probeweise gehe ich in ein Geschäft, weil ich ein Ladekabel brauche. Ich finde dort tatsächlich auf Anhieb das richtige und denke, dass Einkaufen auch eine Art sein kann, sich zu verbinden.

Ich frage die freundlichen Melonenverkäufer nach dem Weg Richtung Goldenes Horn: „Haliç nerede?“ Am Wasser kann ich mich orientieren, dort werde ich irgendwie ins Pavita Café finden. Ich möchte zum Abschluß noch einmal Incilays leckeres Menemen essen.
Die Melonenverkäufer zählen zunächst sämtliche Namen der umliegenden Viertel auf und zeigen dann grob nach halblinks. Zuvor vermitteln sie mir noch die Möglichkeit Mevlut zu fotografieren.
Langsam schiebe ich mich die Strassen hinunter Richtung Ufer. Istanbul ist groß und schön und dauernd anders. Einmal mehr bin ich froh, dass ich mich auf den Weg gemacht habe. Auch wenn kein Tag vergeht, an dem ich nicht an Deniz Yücel denke, der irgendwo in dieser Stadt (wie so viele andere!) in Isolationshaft sitzt.

Mevlut im Stadtviertel Draman

Metin und sein Sohn Paşa

Sadia

11 Comments

  • Sonja sagt:

    Sehr schön ist das, Smilla. Beneide Dich ums Stadt-Umarmen.

  • Anna sagt:

    Teşekkür, liebe Smilla! (Das erste Wort habe ich nachgeschlagen. Ich kann kein einziges Wort Türkisch. Ich hoffe, die Übersetzung stimmt! ;-))

    Es ist schön, nicht nur ein bisschen davon zu erfahren, wo Du unterwegs bist und wen Du triffst, sondern auch davon, WIE Du die Menschen triffst, WIE Du ihnen begegnest!

    Mit dem Teilen dieser Kostbarkeit tue ich mich etwas schwer. Da ich auch auf Deiner Facebookseite nicht mehr ganz "still" bin, wäre es eigentlich egal. Aber ursprünglich tat es mir wohl, hier einen "Platz" zu haben, an dem ich mich äußern kann, weitgehend ohne dass jemand oder gar mehrere "aus der Nähe" es mitbekommen hätte(n). Dieses unsichtbare Unterwegssein ist schon gebröckelt, aber ich schaue ihm noch etwas wehmütig hinterher. Aber ich überleg's mir, mit dem Teilen. 😉

  • christine sagt:

    Auch ich bewundere dich wie du alleine mit Kamera durch die Straßen läufst!! Tolle Bilder , interessant geschrieben.
    LG
    Christine

  • Anonym sagt:

    Vielen Dank, dass du mich auf diese wunderbare Reise mitnimmst.

    Liebe Grüße
    Amélie

  • lisa kötter sagt:

    Ja, ich verstehe dieses Gefühl von "darf ich das?",
    Ich will grad nicht in die Türkei reisen, unter anderem, weil meine Freundin, die dort 40 Jahre gelebt hat, ausreisen musste. Sie hat ihr Heim und ihren Beruf verloren. Solange sich nichts ändert ist das geliebte Land mit seinen so sehr liebenswerten Bewohnern( ich schließe alle ein, die menschenfreundlich denken und handeln) für mich tabu. Und die Sehnsucht groß.
    So habe ich Deinen Spaziergang sehr genossen. In Bild und Wort.
    Lieben Dank dafür und herzlichen Gruß von Lisa

  • sylvia sagt:

    Liebe Smilla
    du berührst mal wieder mein Herz. Ich kann die Sehnsucht so nachvollziehen und ich bewundere dich für deinen Mut allein nach Istanbul zu reisen und auch dafür, wie sehr es dir gelingt, die Herzen und Gesichter der Menschen ein wenig zu öffnen.

    LG Sylvia

  • monerl sagt:

    Hallo Smilla,
    ich bin zufällig über deinen Blog gestolpert und ganz begeistert! So viele schöne Fotos und Informationen dazu. Hut ab auch vor deiner Entscheidung, zu dieser nicht so einfachen Zeit alleine nach Istanbul zu reisen! Aber dein Bericht zeigt, wie sehr es sich gelohnt hat.
    GlG vom monerl

  • Rebekka. sagt:

    Immer möchte ich kommentieren "Ach, Smilla.", und das meint so viel und sagt für sich geschrieben doch so wenig darüber, was ICH damit meinen würde. – Danke, dass du das/dich/deine Empfindungen wieder [mit]teilst.

  • Isabelle sagt:

    Danke für diesen wunderbaren Bericht und die tollen Bilder.

    LG Isabelle

  • Sehr schöne Fotos, Schade, wenn die schönen alten Häuser so zerfallen. Du machst tolle Aufnahmen.
    LG Lesley

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