Haydarpaşa, kapalı

Es gibt Orte, an denen ist man üblicherweise nicht allein. Oder besser gesagt, vielleicht ist man an ihnen sogar allein, aber man ist nicht für sich. Manche Orte teilt man naturgemäß mit anderen Menschen; sogar mit vielen zumeist. Deswegen hat es es immer seinen ganz eigenen Zauber, solche Orte menschenleer vorzufinden. Schon einer nächtlichen, verlassenen Fußgängerzone, die nur für den Öffnungszeiten-orientierten Tag gemacht zu sein scheint, wohnt dieser eigentümliche Reiz inne. Oder eine Kneipe (sagt man eigentlich heute noch Kneipe?) die man nur laut und voll und (früher) verqualmt kennt; verstörend in trübem Tageslicht, die Stühle auf den Tischen, ernüchternd dreckig und über allem der spröde Duft der Zapfanlage, den man lieber nicht gerochen hätte. Und gibt es nicht auch Filme zum Thema? Nachts im Museum, Allein im Kaufhaus …

Haydarpaşa, der historische Kopfbahnhof auf Istanbuls asiatischer Seite, war einmal der zweitgrößte Bahnhof der Stadt. Hier kamen Züge aus Anatolien, Syrien, Iran, Irak an. Wer weiter nach Europa wollte musste die Fähre über den Bosporus zum Bahnhof Sirkeci auf der europäischen Seite nehmen; so wie es Hercule Poirot in ‚Mord im Orientexpress‘ getan hat, um mal ein fiktives Bild zu bemühen.

Heute ist Haydarpaşa ein seltsam verlassener Ort. Im Frühjahr 2012 wurde zunächst der Fernverkehr und etwas später auch der Regionalverkehr eingestellt. Obwohl das nun schon über drei Jahre her ist wirkt alles, als wäre der Bahnhof erst kürzlich hastig geräumt worden. Zwar sind die Fahrkartenautomaten im Eingang abgebaut, die Ticketschalter sind geschlossenen und frei von persönlichen Spuren. Hinter den Fenstern stehen Schilder: ‚Kapalı‘, das bedeutet ‚Geschlossen.‘ Auch die kleinen Bahnhofskioske – die Büfes – sind verlassen, leer, teilweise mit Brettern vernagelt. Bis auf einen. Ganz rechts in einer Reihe toter Schaufenster bietet ein letzter Kiosk noch immer Tee und Zigaretten an und was es eben so gibt im türkischen Büdchen.

Vielleicht liegt es an den Zügen, die noch auf den Gleisen stehen, vielleicht an den geschlossenen, aber hübschen Gittertoren, die den Zugang zu den Gleisen scheinbar nur vorübergehend verwehren, an den Schildern, auf denen für Reisende noch immer steht, an welchem Ort sie sich gerade befinden: Haydarpaşa. Vielleicht liegt es am vitalen Grün der eingezäunten Bahnhofsbüsche, vielleicht an den südlichen Palmen, die den Geschäftigen etwas Lässigkeit entgegensetzen . Haydarpaşa ist ein Bahnhof ohne Fahrplan und das macht ihn zu einem traurigen Ort.
Aber irgendwie scheint den Bahnhof selbst niemand informiert zu haben, dass er fortan nicht mehr genutzt werden soll. Mit Contenance und Würde steht er aufrecht und wirkt vorbereitet. Es fällt so leicht, sich ein wuselndes Meer aus Reisenden, Koffern und Stimmen vorzustellen, die sich wie selbstverständlich in ihm ausbreiten und bewegen. Der Bahnhof ist ein verlässlicher Veteran, der zu früh den Dienst quittieren musste und ein renitentes Lüftchen weht heimlich durch die Hallen: Ihr könnt mich mal, ich bin noch da!

Vielleicht also ist das der Grund, warum ich das Gefühl habe, beschenkt zu sein: einen Ort erleben zu dürfen, der nur ausnahmsweise einmal menschenleer ist, in dem sich sonst das Leben eher von der lärmenden Seite zeigt.

Aber natürlich weiß ich von all den Modernisierungsmaßnahmen, die Erdogan ehrgeizig in Istanbul voranbringt: vom Marmaray-Projekt, einem Tunnel der den Zugverkehr unter dem Bosporus stattfinden lassen soll.
Zwischen dem Bahnhof und dem nahen Containerhafen liegt der Güter- und Hafenbahnhof. All dies wird in der Zukunft einem riesigen Kreuzfahrtterminal, Shopping-Malls und anderen gewinnträchtigen Immobilien weichen müssen.
Der Bahnhof selbst wird im kleineren Teil zum Museum, der größere Teil wird zum Hotel mit angeschlossenem Einkaufstempel umgebaut.

Derzeit befindet sich Haydarpaşa in einer Art Zwischenphase. Der Istanbuler Alltag schwappt nicht mehr hierher, ein paar wenige Touristen verirren sich noch in den Bahnhof. Die Fähre hat keinen ständigen Haltepunkt mehr an dieser Stelle; wer von Eminönü oder Kabataş herüberkommt wird ohne Zwischenstopp nach Kadiköy gefahren. Bei meinem Besuch im Spätsommer hat am Rande der Istanbul Bienali in der Bahnhofsvorhalle die deutsch-türkische Künstlerin Rahşan Düren ihre Installation ‚E-Motions‘ ausgestellt. Ein pompöses Konstrukt aus zu goldenen Weichenhebeln (?) und zu lauter Musik, die meinen Unwillen gegen Manipulation geweckt haben. Immerhin aber ist für eine Weile wieder Leben eingezogen.

Blick an die Decke der Vorhalle

Bei meinem Spaziergang durch den Bahnhof spricht mich schließlich Murat an; er ist hier der Sicherheitsbeamte. Ich halte ihn aber zunächst für einen Polizisten und bin etwas beunruhigt; vielleicht ist fotografieren hier ja bei Strafe verboten?
Murat spricht kein Englisch, ich spreche kein Türkisch, es ist das alte Lied. So viele Fragen würde ich gern stellen, und es reicht doch nur für den Austausch von Basisinformationen. Murat lädt mich zum Tee im verbliebenen Kiosk ein und wir lächeln viel. Er tippt ein paar Worte in ein online-Übersetzungstool und schnell wird klar, dass wir unterschiedliche Themen haben: ich möchte etwas über den Bahnhof erfahren, oder über Murats Arbeit – er möchte mich gerne zu sich nach Hause einladen und macht mir Komplimente.

Nach dem Tee laufe ich noch ein bisschen ziellos durch den Bahnhof – es fällt mir schwer zu gehen. Zwei Mädchen mit Kopftüchern machen am Seiteneingang Selfies von sich, eine Gruppe Mädchen spielt Modeshooting auf den geschwungenen Wartebänken aus dunklem Holz. Manchmal kichern sie oder rufen etwas – die Akustik ist erstaunlich gedämpft und ohne Hall. Ein paar Katzen streifen herum und wieder nehme ich das renitente Lüftchen wahr, an diesem Ort, der sich weigert aus der Welt zu fallen und mir doch hilft, es zu tun.

8 Comments

  • Anna sagt:

    Bemerkenswert, dass Du über die Begegnung mit einem Bahnhof schreiben und sie bebildern kannst wie (über) die Begegnung mit einem Menschen! Danke für's immer wieder Weiterführen des Blogs!

  • smilla sagt:

    Liebe Anna, danke dir! Und danke vor allem auch fürs immer wieder weiterlesen in meinem Blog, der noch immer so viel zu kurz kommt in meinem Leben gerade, leider.

  • layla la sagt:

    Danke für deinen schönen Bericht! Ich wusste gar nicht, dass Haydarpasa stillgelegt wurde.

  • Anna sagt:

    Sehr gern, liebe Smilla! Das Warten lohnt sich schließlich immer wieder neu!
    Ich wünsche Dir (und mir 😉 für 2016 wieder mehr Blogzeit-Inseln!

  • lihabiboun sagt:

    WOW! Was für eine Reportage, am liebsten würde man sofort hinfahren. Danke (auch generell für Ihr wunderbares blog).

  • Katta sagt:

    Wunderbar, ein wirklich klasse Eintrag <3

    Allerliebste Grüße,
    HOLYKATTA

  • Rumpelkammer sagt:

    was für eine atemberaubende Schönheit
    danke für den Bericht..
    liebe Grüße
    Rosi

  • Stefan sagt:

    Yeah. Schließe mich an! Du fotografierst nicht nur schlafwandlerisch gut (jedenfalls was Deine hier veröffentlichen Aufnahmen betrifft), nee, Deine verbalen Fähigkeiten stehen Deinem bildnerischen Tun dabei nicht nach. Wenn ich dann noch Dein Selbstportrait (wg. Bautzen etc) mit in's Bild nehme(sorry für die naheliegende Metapher!…) kann ich Murat gut, nein bestens verstehen! – Vielen Dank für das Sichtbarmachen des Lebenswerten!

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