Cemals Café

Istanbul ist auf sieben Hügeln erbaut und jeder dieser Hügel bietet unzählige Aussichten und Panoramablicke. Stünde das Wort Hügel für einen hohen mathematischen Rechenwert und nähme man den zum Quadrat – oder besser noch alle sieben Hügel zum Quadrat – dann käme dabei eine immens hohe Zahl heraus, die die Fülle der Aussichtsmöglichkeiten Istanbuls beschreiben würde. An einem dieser fast beiläufig vorhandenen, verschwenderisch schönen Aussichtspunkte hat Cemal ein kleines Straßencafé.
Selten dürfte diese Bezeichnung derart stimmig sein: Cemals Café liegt nicht nur an der Straße, es befindet sich auch darauf. Es gibt kein Drinnen und kein Draussen, es gibt keine Toiletten, nichts zu Essen und auch keine große Auswahl. Aber es gibt Kaffee, und der wird in wunderschönen kleinen Tassen serviert. Und es gibt – natürlich – einen Ausblick.

Direkt über einer kleinen, etwas räudigen Grünanlage, dem Sanatkârlar Parkı, liegt Cemals Café. Den schmalen Bürgersteig begrenzt ein Geländer, so dass niemand in den Park hinunterfallen kann. Wenn Cemal sein Café eröffnet, irgendwann am Nachmittag, stellt er ein oder zwei Tische ans Geländer. Wenn mehr Gäste kommen, stellt er noch ein paar Tische dazu. Manchmal stehen Autos am Straßenrand seines Bürgersteig-Cafés. Wenn eins wegfährt, schiebt Cemal mit einer ganz eigenen Schwungtechnik schwere, aber leere Blumenkästen aus Stein auf die frei gewordene Fläche.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, an einer graffitigeschmückten Mauer, wird von Cemals Freund Mehmet in einer Art Schrank der Kaffee zubereitet.

Cemal ist 80 Jahre alt, seit 26 Jahren betreibt er sein kleines Straßencafé. Früher war es ein paar Meter weiter rechts, aber irgendwann ist dort ein Parkplatz entstanden, so dass Cemal mit seinem Mobiliar ein wenig wandern musste. Ganz legal ist der kleine Betrieb nicht, aber richtig ernsthafte Probleme hat es in all den Jahren nicht gegeben. Nicht die Polizei sei das Problem – die auch gerade auf einen Kaffee vorbeigeschaut hat – sondern ‚the government‘. Das erklärt mir Ela, Cemals Enkelin, und ich vermute, sie meint so etwas wie das Ordnungsamt.

Cemals Café ist ein friedlicher Ort. Manchmal fährt ein Auto vorbei oder ein paar Jugendliche lassen den Motor ihres Mopeds aufheulen. An den Tischen sitzen Menschen im leisen Gespräch in der letzten Sonne des frühen Abends, die schließlich dem Schatten das Feld überlässt und über den Bosporus nach Asien leuchtet.
Ich bin an meinem letzten Abend bei Cemal zu Gast. Als ich meinen Kaffee bezahle, frage ich ob ich ein paar Fotos machen kann. Cemal ruft Ela, die schon seit einer Weile an der Mauer sitzt und in ihr Telefon versunken ist. Ela übersetzt und erzählt mir Geschichten aus Cemals Leben: dass er früher unten in Karaköy, in der Nähe der Galata-Brücke ein Restaurant hatte, neben dem Friseur-Salon seines Sohnes – Elas Vater. Außerdem hat Cemal dort auch einen Parkplatz betrieben – einen Otopark, wie sie in Istanbul heißen.

Ela erzählt mir, dass sie mit ihren Eltern und ihren Großeltern zusammen in einem Haus lebt: drei Generationen unter einem Dach. Während ich Mehmet beim Kaffee zubereiten fotografiere wird es langsam voller an der bunten Mauer: Elas Mutter ist mit Cemals Frau vorbeigekommen und die alte Dame darf nun im Ledersessel Platz nehmen, auf dem vorher Cemal seine Rauchpausen gemacht hat. Weil Mehmet den Kaffee extra fürs Foto zubereitet hat, darf ich ihn trinken und bekomme auch ein Plätzchen an der Mauer. Elas Mutter schenkt mir einen Apfel und ich fühle mich sehr herzlich aufgenommen.

Cemal verlässt niemals ohne Krawatte das Haus. „Every day!“ sagt Ela und betont mit hochgezogenen Augenbrauen die Wichtigkeit dieses Umstandes.

Schließlich lädt Ela mich ein, sie nach Hause zu begleiten; in das Drei-Generationen-Haus. Es ist nur ein paar Minuten entfernt und Ela versichert mir mit großer Begeisterung, wie sehr sie sich freuen würde, wenn ich auch dort Fotos mache. Elas Herzlichkeit macht mich sprachlos und gerne nehme ich ihre Einladung an. Nachdem ich meinen Foto-Kaffee getrunken habe, machen wir uns also auf den Weg zum Haus von Elas Familie.
Darum – und um Ela – wird es im zweiten Teil dieser Geschichte gehen – ich möchte die Einladung gebührend würdigen.

Am nächsten Morgen, dem Tag meiner Abreise, gehe ich noch einmal zu Cemals Café. Ich weiß, dass es noch nicht geöffnet hat, und so kann ich es im geschlossenen Zustand fotografieren. Man würde, wenn man tagsüber vorbeiläuft, nicht unbedingt vermuten, dass sich hier einer der schönsten Plätze Istanbuls verbirgt.


„Istanbul, meine Stadt. Du schmeckst heute Abend wie ein reiner schwarzer Kaffee.“

5 Comments

  • Anonym sagt:

    Oh, wie schön. Ich war noch nie in Istanbul, würde jetzt aber gern bei Cemal einen Kaffee trinken …
    Susan

  • Anna sagt:

    Toll! In Wort und Bild. Bitte möglichst bald den zweiten Teil der Geschichte veröffentlichen! Ich bin schon ganz gespannt…

    Auch wenn ich mir wohl nicht anmaßen kann, eine persönliche Begegnung mit einer – wie ich mittlerweile finde – aber durchaus auch ernstzunehmenden virtuellen wirklich zu vergleichen, möchte ich doch eine Parallele ziehen: Danke, dass ich mich immer wieder neu eingeladen fühlen darf, zu lesen und zu schauen und zu kommentieren, hier in Deinem "Blog-Cafe", in dem nicht nur die "Buchstabensuppe" stets mit ganz viel Liebe zubereitet ist!

  • Rebekka. sagt:

    Liebe Smilla, ich war noch nie in der Türkei, und prinzipiell ziehen mich das Land und die Stadt Istanbul auch gar nicht, aber dein beständiges ruhiges Schwärmen in Bildern macht mich doch ein bisschen sehn-süchtig.

  • Anonym sagt:

    Herzerwärmend, was Du erlebt hast! Und das Warten auf Deinen neuen Blog-Eintrag hat sich wieder einmal mehr als gelohnt! Danke für Deinen offenen Blick auf die großen und kleinen Schönheiten der Welt – und auf die Menschen, die sich Dir, nicht von ungefähr!, öffnen! Dankbare Grüße aus München von Heike!

  • Anonym sagt:

    soo schöne fotos!!!
    soo angenehm-feine texte!!!
    immer wieder eine helle freude, wenn du was neues mit uns teilst 😉
    waldwanderer

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